Vom glücklichen Leben

An seinen Bruder Gallio

1. Wer, mein Bruder Gallio, wünschte sich nicht ein glückliches Leben? Aber um zu erkennen, was uns zum Lebensglück verhelfen kann, dazu fehlt uns der richtige Blick. Nichts ist schwerer, als sich des glücklichen Lebens teilhaftig zu machen. Ja, je stürmischer man ihm zueilt, um so mehr entfernt man sich von ihm, wenn man den Weg verfehlt hat; führt dieser nach der entgegengesetzten Seite, so wird gerade die Eile der Grund, den Abstand zu vergrößern. Wir müssen uns also zunächst Klarheit verschaffen über Wesen und Beschaffenheit des Zieles; sodann gilt, es, Umschau zu halten nach dem Wege, auf dem wir am schnellsten zu ihm gelangen können, wobei der Weg selbst, wenn er nur der rechte ist, uns zu der Erkenntnis verhelfen wird, wieviel wir täglich vor uns bringen und in welchem Maße wir dem Punkte näherkommen, nach dem uns unser natürliches Verlangen hintreibt. Solange wir kreuz und quer umherschweifen und uns nicht von einem Führer leiten lassen, sondern lediglich von dem einander heillos widersprechenden Geschnatter und Stimmengewirr der Menge, schwindet das kurze Leben unter lauter Fehltritten dahin, mag man sich auch Tag und Nacht um vernünftige Einsicht bemühen. Daher entscheide man sich über das Ziel und den Weg nicht ohne einen bestimmten Sachkundigen, der genau Bescheid weiß über die Richtung, in der wir uns vorwärts bewegen. Denn hier steht es nicht so wie bei sonstigen Wanderungen: bei diesen sichert uns irgendein Grenzweg, auf den man trifft, nebst der Nachfrage bei den dort Ansässigen, vor Irregehen, während hier gerade der betretenste und menschenreichste Weg am leichtesten täuscht. Auf nichts also müssen wir mehr achten als darauf, nicht nach Art des Herdenviehs der vorauslaufenden Schar zu folgen: wir würden dann nur den meist betretenen, nicht aber den richtigen Weg wählen. Und doch verwickelt uns nichts in größeres Unheil, als daß wir uns nach dem Gerede der Menge richten, in dem Wahne, das sei das Beste, was sich allgemeinen Beifalls erfreut und wofür sich uns viele Beispiele bieten, und daß wir nicht nach Maßgabe vernünftiger Einsicht, sondern des Vorganges anderer leben. Daher jene gewaltige Anhäufung stürzender Menschen, die einer über den anderen fallen. Was man bei tödlichem Menschengedränge sieht, wo die Menge sich staut und sich selbst zerquetscht - niemand stürzt, ohne zugleich einen anderen mit zu Fall zu bringen, und die Vordersten ziehen die Folgenden mit sich -, das kann man durchgängig im Leben beobachten. Keiner irrt nur für sich, sondern gibt zugleich Grund und Veranlassung zum Irrtum anderer. Der blinde Anschluß an die Vorhergehenden wirkt aber schädlich, und während männiglich lieber glauben als selbst denken will, kommt es nie zu einem klaren eigenen Urteil über das Leben; immer hält man es nur mit dem Glauben an andere, und so treibt denn der von Hand zu Hand weitergegebene Irrtum mit uns sein Spiel und bringt uns zum Absturz: die Beispiele anderer werden uns zum Verderben. Wir können Heilung finden; nur müssen wir uns absondern von der großen Masse. Allein wie die Sache jetzt liegt, wirft sich die Volksmenge zur Verteidigerin ihres eigenen Unheils gegen die Vernunft auf. Daher erlebt man Ähnliches wie in den Wahlversammlungen (Komitien), wo sich die eigentlichen Macher der Wahl selbst wundern, wenn infolge des Umschwunges der wandelbaren Volksgunst ihre eigenen Kandidaten zu Prätoren gewählt worden sind. Ein und dieselbe Sache erhält unsere Billigung, erhält unseren Tadel. Das ist der Ausgang jedes Gerichtes, wo nach dem Gutdünken der Menge entschieden wird.

2. Wenn es sich um das Lebensglück handelt, darfst du mir nicht mit einer Antwort kommen, wie sie bei den Abstimmungen im Senat üblich ist: »auf dieser Seite scheint die Majorität zu sein.« Denn eben darum ist sie die schlimmere. Wo es sich um Tragen der Menschheit handelt, sind wir nicht in der glücklichen Lage, sagen zu können, daß der Mehrzahl das Bessere gefalle: der Standpunkt der großen Masse läßt gerade den Schluß auf das Schlimmste zu. Wir müssen also fragen, was zu tun das Beste, nicht was das Gebräuchlichste ist, und was uns den Besitz ununterbrochen dauernden Glückes sichert, nicht was dem großen Haufen, diesem verwerflichsten Ausleger der Wahrheit, genehm ist. Zur großen Masse rechne ich aber ebensogut gekrönte Häupter wie Menschen im Kittel. Denn ich blicke nicht auf die Farbenpracht der Kleider, die dem Körper ein stattliches Aussehen verleihen; ich traue nicht den Augen, wo es sich um den Menschen handelt; ich habe eine bessere und zuverlässigere Leuchte, um Wahres und Falsches zu unterscheiden: es ist des Geistes Wert, den der Geist auffinden soll. Ist er - der Geist - einmal dazu gekommen, ruhig aufzuatmen und Einkehr in sich zu halten, wie wird er sich dann unter dem selbstbereiteten Druck der Folterqualen die Wahrheit gestehen! »Alles«, wird er sagen: »was ich bisher getan, o möchte es doch ungetan sein; überschlage ich im Geiste alles, was ich gesagt habe, so beneide ich die Stummen; alles, was ich mir gewünscht habe, erscheint mir wie ein Fluch aus dem Munde der Feinde; alles, was ich gefürchtet habe, gute Götter, wieviel geringer war das anzuschlagen als das, was ich mit heißem Verlangen mir vergebens herbeiwünschte! Mit vielen habe ich in Feindschaft gestanden und habe mich, dem Hasse entsagend, wieder mit ihnen versöhnt, sofern überhaupt unter Übeltätern von Versöhnung die Rede sein kann: meine Freundschaft mit mir selbst steht noch auf schwachen Füßen. Ich habe mir redlich Mühe gegeben, mich aus der großen Menge herauszuheben und durch irgendwelchen Geistesvorzug die Augen auf mich zu lenken. Und der Erfolg? Er war kein anderer als der, daß ich mich wohlgezielten Angriffen ausgesetzt sah und den Böswilligen die Blößen zeigte, wo sie mich packen konnten. Siehst du sie, die meine Beredsamkeit preisen, meinem Reichtum nachlaufen, um meine Gunst buhlen, meine Macht in den Himmel heben? Sie alle sind nichts anderes als entweder meine Feinde oder, was dasselbe besagt, sie können es sein: die Schar der Bewunderer ist nicht größer oder kleiner als die der Neider. Warum richte ich mein Sinnen und Trachten nicht vielmehr auf etwas als gut Erprobtes, dessen ich mir innerlich gewiß bin, statt auf etwas, womit ich nach außen hin Staat mache? All das, was die Augen auf sich zieht, was die Vorübergehenden haltmachen läßt, was der eine dem anderen staunend zeigt - es ist nichts als äußerer Glanz ohne jeden inneren Wert.«

3. Schauen wir also aus nach einem nicht äußerlich glänzenden Gut, sondern einem solchen, das in sich gefestigt und gleichmäßig ist und seine höhere Schönheit von weniger bemerkbarer Seite zeigt! Das laßt uns ausfindig machen. Und es liegt nicht in der Ferne; man muß nur wissen, wohin man die Hand strecken soll. Jetzt tappen wir gleichsam im Finsteren, haben das sehnsüchtig Gesuchte unmittelbar vor uns und gehen dicht daran vorüber. Doch um dir lange Umwege zu ersparen, will ich mich nicht auf die Meinungen anderer einlassen - denn es wäre eine zeitraubende Sache, sie aufzuzählen und zu widerlegen -: laß dir meine Ansicht genügen. Wenn ich aber sage: meine Ansicht, so binde ich mich damit nicht an irgendeinen einzelnen Meister der Stoa: auch ich habe das Recht der eigenen Meinung. Daher werde ich mich an diesen oder jenen anschließen, werde einen anderen auffordern, einzelne Punkte seiner Meinung bestimmt hervorzuheben, und werde, wenn ich etwa erst zuletzt aufgerufen werde, nichts von dem, wofür sich meine Vorgänger ausgesprochen haben, verwerfen und nur erklären: »Ich stimme dafür, nur mit folgendem Zusatz.« Dabei halte ich mich, worin die Stoiker alle übereinstimmen, an die Natur. Von ihr nicht abzuirren, nach ihrem Gesetz und Beispiel sich zu bilden, das ist Weisheit. Glücklich also ist dasjenige Leben, das mit seiner Natur in vollem Einklang steht. Dies Ziel zu erreichen ist aber nicht anders möglich als wenn zuvörderst der Geist gesund und im dauernden Besitz dieser seiner Gesundheit ist, wenn er ferner tapfer und voll Feuer ist, sodann auch im Leiden ein schönes Muster von Ergebenheit, in die Umstände sich schickend, achtsam auf den Körper und seine Bedürfnisse, doch nicht bis zur Ängstlichkeit, voll Bedacht auch für alles, was sonst zum Leben gehört, ohne die mindeste Überschätzung, bereit, des Schicksals Gaben zu nutzen, nicht aber, um sich zu ihrem Sklaven zu machen. Als Folge davon stellt sich - das ist dir auch ohne ausdrücklichen Hinweis darauf klar - andauernde Ruhe verbunden mit dem Gefühl der Freiheit ein unter Fernhaltung von allem, was uns reizt oder in Schrecken versetzt. Denn ist der Reiz der Sinnengenüsse geschwunden, so stellt sich statt dessen, was kleinlich, hinfällig und eben durch seine Lasterhaftigkeit schädlich ist, eine erstaunlich frohe Stimmung ein, unerschütterlich und sich immer gleichbleibend, sodann Friede und Eintracht der Seele, sowie hochherzige Gesinnung verbunden mit Sanftmut; denn wilde Rohheit hat ihren Ursprung immer nur in der Schwäche.

4. Man kann den Begriff des höchsten Gutes auch noch anders bestimmen, nämlich so, daß man denselben Inhalt mit anderen Worten umschreibt. Wird doch das nämliche Heer bald in gedehnterer, bald in mehr gedrängter Front aufgestellt, und entweder in einer von den Flügeln nach dem Zentrum eingebogenen oder in gerader Linie formiert, wobei, gleichviel wie es geordnet ist, seine Kraft sowie seine Bereitschaft, für dieselbe Sache einzutreten, die nämliche bleibt. Ähnlich steht es mit der Bestimmung des höchsten Gutes: das eine Mal kann sie in gegliederter und weitläufiger, das andere Mal in kurzer und gedrängter Form gegeben werden. Es kommt also auf dasselbe hinaus, wenn ich sage: »Das höchste Gut ist eine alles Zufällige gering achtende, nur an der Tugend sich erfreuende Sinnesart« oder: »Eine unbeugsame Seelenkraft, kundig der Dinge, bedächtig und ruhig im Handeln, voll Menschenliebe und fürsorgender Teilnahme für die Umgebung.« Man kann auch so definieren, daß man sagt: »Glücklich ist derjenige Mensch, für den es nichts Gutes und Übles gibt als die gute und die schlechte Gesinnung, der der edlen Sitte huldigt, dem nichts über die Tugend geht, den Schicksalsfügungen nicht stolz aber auch nicht verzagt machen, der kein größeres Gut kennt als das, welches er sich selbst geben kann, dem die wahre Lust die Verachtung der Lüste ist.« Will man sich gehenlassen, so kann man das Nämliche ohne jede Schädigung oder Beeinträchtigung des Sinnes noch in diese und jene Form umgießen. Denn was hindert uns zu sagen, ein glückliches Leben habe seinen Bestand in einer freimütigen, aufrechten, unerschrockenen und standhaften Sinnesart, die, jeder Furcht, jeder Begierde enthoben, begeistert ist für die Ehre als einziges Gut, voll Abscheu gegen die Schande als einziges Übel, während alles übrige nichts ist als eitel Tand, das Lebensglück weder beeinträchtigend noch erhöhend, kommend und gehend ohne Vermehrung oder Verminderung des höchsten Gutes? Ihm, der auf so festem Grund steht, muß notwendig, mag er wollen oder nicht, heitere Stimmung beständige Gefährtin sein sowie auch ein herzlicher, weil aus dem Herzen kommender Frohmut; denn worüber er sich freut, das darf er sein Eigentum nennen, und seine Wünsche gehen nicht hinaus über das, worüber er zu gebieten hat. Sollte solcher Besitz nicht in vollem Maße aufwiegen die kümmerlichen, verächtlichen und rasch vorüberschwindenden Reizungen unseres armseligen Körpers? Der nämliche Tag, an dem er die Lust zu seinem Gebieter macht, macht auch den Schmerz zu seinem Herrn. Du hast ja doch ein offenes Auge für das Üble und Schädliche der Knechtschaft, in die derjenige sich begibt, den Lust und Schmerz, diese unbeständigsten und zügellosesten Herrscher, abwechselnd in Beschlag nehmen. Also gilt es sich loszuringen, um den Weg zur Freiheit zu gewinnen. Sie zu erlangen gelingt nur durch die Gleichgültigkeit gegen das Schicksal: dann wird sich jenes unschätzbare Gut einstellen, jene fest in sich gegründete Seelenruhe und Geisteshoheit, jene erhabene und unerschütterliche Freude, die nach Austreibung des Irrtums aus der Erkenntnis der Wahrheit entspringt, jene Herzlichkeit und Gemütsheiterkeit, an der er seine Freude hat nicht als an Gütern an sich, sondern als an Früchten des ihm als Eigentum zugehörigen Gutes.

5. Da ich mit Begriffsbestimmungen einmal im Zuge bin, so sei noch folgendes hinzugefügt: Glücklich kann derjenige genannt werden, der weder von Begierden, noch von Furcht erregt wird, - wohlverstanden dank seiner vernünftigen Einsicht. Denn auch das Felsgestein ist frei von Furcht und Traurigkeit und ebenso das Vieh; doch wird sie niemand glücklich nennen, sie, denen jedes Bewußtsein des Glückes fehlt. Ebenso steht es mit denjenigen Menschen, die ihr Stumpfsinn und der Mangel an Selbstbewußtsein auf die Stufe des Viehs und der leblosen Dinge gesetzt hat. Es ist kein Unterschied zwischen jenen und diesen; denn haben letztere überhaupt keine Vernunft, so haben zwar jene so etwas wie Vernunft, aber eine verkehrte, unheilvolle und widersinnig wirkende; kann doch niemand glücklich genannt werden, der von Wahrheit nicht die mindeste Ahnung hat. Das glückliche Leben gründet sich also auf ein richtiges und sicheres und keinen Schwankungen unterliegendes Urteil. Nur dann nämlich ist der Geist rein und aller Übel ledig, wenn er nicht nur gegen Lästerungen gefeit ist, sondern auch gegen Nadelstiche, fest entschlossen, nicht zu weichen von der Stelle, wo er einmal Fuß gefaßt hat, und seinen Platz gegen jede Wut und Feindseligkeit des Schicksals zu verteidigen; denn was die Sinnenlust anlangt, mag sie auch von allen Seiten sich uns aufdrängen und keinen Zugang unbenutzt lassen und die Seele mit ihren Reizmitteln umschmeicheln und bald dies bald jenes Register ziehen, um uns, sei es den Menschen im ganzen oder nach seinen einzelnen Organen, in begehrliche Unruhe zu versetzen, so frage ich doch: welcher Sterbliche, in dem auch nur eine Spur von Menschentum sich noch findet, möchte sich wohl Tag und Nacht kitzeln lassen und unter völliger Preisgabe der Seele all sein Denken und Trachten in den Dienst des Leibes stellen?

6. »Aber auch die Seele«, sagt man, »wird doch ihre Vergnügungen haben.« Ja, mag sie sie haben und über Schwelgerei und Sinnengenuß entscheiden, mag sie sich anfüllen mit alle dem, was gemeinhin der Sinnenlust dient, mag sie zurückschauen auf die Vergangenheit und schwelgen in der Erinnerung an geschwundene Lusterregungen und schon auf der Lauer liegen für weiterhin kommende, mag sie Hoffnung an Hoffnung reihen und, während der Leib noch nicht fertig ist mit Verdauung der jetzigen Überfütterung, mit ihren Gedanken der weiterhin kommenden vorgreifen: in meinen Augen wird sie nur um so bedauernswerter sein; denn das Schlechte zu wählen statt des Guten ist nichts als Torheit. Ohne gesunde Vernunft kann niemand glücklich sein, und geistig gesund ist niemand, der das Schädliche erstrebt statt des Besten. Glücklich ist also nur, wer im Besitze gesunden Urteils ist; glücklich ist nur, wer mit seiner Lage, welcher Art sie auch sein mag, zufrieden ist und in Eintracht mit seinen Verhältnissen lebt; glücklich ist nur der, dessen ganze Lebenslage sich der Billigung der Vernunft erfreut.

7. Haben doch selbst diejenigen, die das höchste Gut in die Gedärme verlegt haben, ein Einsehen dafür, welche schimpfliche Stellung sie ihm angewiesen haben. Sie behaupten daher, die Lust könne von der Tugend nicht getrennt werden, und versichern, niemand könne tugendhaft leben, ohne zugleich lustvoll zu leben, und niemand lustvoll, ohne zugleich tugendhaft. Ich wüßte nicht, wie es möglich sei, so verschiedene Dinge zusammenzukoppeln. Laßt, ich bitte euch, den Grund hören für die angebliche Untrennbarkeit von Lust und Tugend! Wurzelt denn etwa, weil das Gute in der Tugend seine Quelle hat, in dieser auch das, worauf euer Sinnen und Trachten gerichtet ist? Allein, wären Lust und Tugend wirklich untrennbar, so würden wir im Leben nicht so manches zu sehen bekommen, was angenehm, aber nicht tugendhaft, so manches hinwiederum, was in höchstem Maße tugendhaft, dabei aber voll Ungemach und nur unter Schmerzen zu erringen ist. Dazu kommt noch folgendes: Die Lust gesellt sich auch dem schimpflichsten Leben zu; die Tugend dagegen hat mit schlechtem Leben nichts gemein; und es gibt Leute, die unglücklich sind nicht aus Verzicht auf die Lust, sondern gerade um der Lust willen, was nicht der Fall wäre, wenn mit der Tugend die Lust untrennbar vereinigt wäre, auf welch letztere die Tugend oft verzichten muß, ohne sie indes jemals nötig zu haben. Warum stellt ihr Dinge zusammen, die einander nicht ähnlich, ja geradezu entgegengesetzt sind? Die Tugend ist etwas Hohes, Erhabenes und Königliches, unüberwindbar, nicht mürbe zu machen: die Lust etwas Niedriges, Sklavisches, Schwächliches, Einfältiges, dessen Heimstätte und Wohnort Bordelle und Garküchen sind. Der Tugend wirst du begegnen im Tempel, auf dem Forum, in der Kurie; sie steht als Wächterin vor den Mauern, staubbedeckt, mit gerötetem Antlitz, mit schwieligen Händen: die Lust dagegen versteckt sich häufiger in der Nähe von Bädern, Schwitzstuben und Bezirken, wo man vor der Polizei Angst hat, weichlich, kraftlos, von Wein und Salböl triefend, bleich oder geschminkt und durch Arzneien fast zum Leichnam gemacht. Das höchste Gut trägt den Stempel der Unsterblichkeit; es kennt kein Ende, keinen Überdruß, keine Reue; denn die rechte Sinnesart kennt keinen Wechsel und keinen Widerwillen gegen sich selbst und weicht keinen Finger breit ab von der besten Gestaltung des Lebens. Die Lust dagegen erlischt, sobald sie den Höhepunkt des Entzückens erreicht hat; sie hat keinen weiten Spielraum; daher bringt sie schnelle Sättigung, wird uns zum Ekel und welkt nach der ersten stürmischen Hingabe wieder ab. Es ist kein Verlaß auf irgend etwas, das seinen natürlichen Bestand in nichts anderem als in der Bewegung hat. So kann es denn auch durchaus keinen festen Gehalt haben; geht es doch ebenso schnell vorüber, wie es kommt, zum Untergang bestimmt durch die Art, wie es mit sich selbst verfährt; es eilt dem Ende zu, und der Anfang weist schon auf den Schluß hin.

8. Ist das Lustgefühl nicht ebensowohl eine Mitgabe für die Bösen wie für die Guten, und haben die Schurken etwa weniger Wohlgefallen an ihrer Schändlichkeit als die Tugendhaften an den sie auszeichnenden Vorzügen? Daher das alte Mahnwort, dem besten Leben müsse man nachtrachten, nicht dem lustvollsten; denn die Lust soll sich nicht zum Leiter des rechten und guten Willens aufwerfen, sondern soll nur sein Begleiter sein. Soll doch unser Führer die Natur sein: sie ist es, aufweiche die Vernunft achtet und deren Rat sie einholt. Glücklich leben und naturgemäß leben kommt also auf dasselbe hinaus. Was das besagen will, darüber sei folgende Auskunft erteilt: Wir müssen uns an unsere körperlichen Anlagen und das, was unserer Natur entspricht, achtsam und ohne Zagen als an vergängliche und flüchtige Dinge halten, dürfen uns nicht in ihre Knechtschaft begeben und sie, die nicht unser eigentliches Ich sind, nicht zu Herren über uns werden lassen, müssen vielmehr, was dem Körper erwünscht ist und was uns von außen her zukommt, so betrachten, als wären es Hilfstruppen und Leichtbewaffnete im Heereslager - uns zu dienen sind sie bestimmt, nicht uns zu beherrschen -; nur dann sind sie unserem Geiste als unserem eigentlichen Wesen nützlich. Unzugänglich und unüberwindlich für äußere verderbliche Einflüsse sei der Mann, sei ein Bewunderer nicht anderer, sondern seiner selbst, habe Zutrauen zu sich und sei auf alles gefaßt, ein Selbstgestalter seines Lebens. Sein Selbstvertrauen sei nicht ohne Einsicht, seine Einsicht nicht ohne Beharrlichkeit: was er einmal beschlossen, das soll auch Bestand haben, und seine Entscheidungen sollen nicht rückgängig gemacht werden. Selbstverständlich wird ein solcher Mann ein Meister tadelloser Haltung sein und in allen seinen Handlungen Zeugnis ablegen von Hochherzigkeit verbunden mit Menschenfreundlichkeit. Die Außenwelt soll er erforschen mit dem durch die Sinnesorgane erregten Verstand, und diese Anregung soll er zum Ausgangspunkt nehmen -denn er hat keinen anderen Anhalt für sein Beginnen und für Befriedigung seines Bedürfnisses, der Wahrheit auf die Spur zu kommen - aber er soll in sich selbst zurückkehren. Denn auch die alles umfassende Welt und ihr Leiter, die Gottheit, hat zwar ein Streben nach außen, kehrt aber von allen Richtungen her in sich selbst zurück. Ebenso soll es unser Geist halten: hat er sich, der Anregung seiner Sinnesorgane folgend, mit der Außenwelt beschäftigt, so zeige er sich ihrer wie seiner selbst mächtig. Auf diese Weise wird sich jene einheitliche Kraft und Macht bilden, die mit sich in Einklang steht und deren Frucht jene unerschütterliche Einsicht ist, die keinen Zwiespalt kennt und sich nicht verfängt in bloßen Meinungen, Vorstellungen und Einbildungen. Wenn sie zu ihrer rechten Gliederung und zu allseitigem Zusammenschluß und, so zu sagen, zu harmonischem Zusammenklang gelangt ist, dann hat sie die Schwelle des höchsten Gutes erreicht. Denn da findet sich nichts Verkehrtes, nichts Unsicheres mehr, nichts, woran sie straucheln und zu Fall kommen könnte. Alles wird da der Mensch auf eigenen Befehl tun, und nichts wird sich ereignen, worauf er nicht gefaßt wäre, wenn er mit Leichtigkeit und Entschlossenheit und ohne zu zögern zum Handeln schreitet. Denn Trägheit und Unentschlossenheit ist ein Zeichen von innerem Kampf und Unbeständigkeit. Darum kann man kühnlich sagen, das höchste Gut sei Seeleneintracht. Denn da kann es wohl an Tugenden nicht fehlen, wo Übereinstimmung und Einheit sich findet: Zwietracht hat ihren Sitz bei den Lastern.

9. »Indes auch du«, wendet man ein, »huldigst der Tugend aus keinem anderen Grunde, als weil du von ihr irgendwelche Lust erwartest.« Erstens, wenn die Tugend irgendwelche Lust gewähren sollte, so folgt daraus nicht, daß sie um dieser willen erstrebt werde; denn sie gewährt nicht schlechtweg Lust, sondern gewährt diese nur zugleich mit, und sie strengt sich nicht für diese an, sondern ihre Anstrengung wird, wenn sie auch auf etwas anderes abzielt, doch diese zugleich mit erlangen. So wie auf einem Acker, der durch den Pflug für die Saat gelockert ist, mancherlei Blumen mit aufwachsen, ohne daß etwa für dieses Nebengewächs, mag es auch dem Auge gar wohl tun, soviel Mühe verwandt worden wäre - die Absicht des Säemanns war eine andere, das hat sich nur nebenbei eingefunden -, so ist die Lust nicht Lohn oder Grund der Tugend, und sie gefällt nicht, weil sie ergötzt, sondern wenn sie gefällt, so ergötzt sie zugleich. Das höchste Gut liegt in unserem Urteilsvermögen selbst und in dem bestbeschaffenen Verstände; hat dieser seine Bestimmung erreicht und hat er sich seine festen Grenzen gebildet, dann ist das höchste Gut zu seiner Vollendung gelangt und verlangt nach nichts Weiterem; denn über das Ganze hinaus gibt es nichts, so wenig wie über das Ende hinaus. Daher gehst du fehl, wenn du fragst, was es sei, um deswillen ich die Tugend erstrebe; denn du fragst nach etwas, was über das Höchste hinausgeht. »Was verlangst du denn von der Tugend?« So fragst du. Ich antworte: »sie selbst.« Denn sie hat nichts, was besser wäre als sie, sie ist sich selbst ihr Preis. Oder ist das etwa zu wenig? Wenn ich dir sage: »Das höchste Gut ist eine unerschütterliche Unbeugsamkeit, Umsicht, Erhabenheit, Gesundheit, Freiheit, Harmonie und Schönheit der Seele«, forderst du auch dann noch irgend etwas Höheres, durch das diese Vorzüge erst ihre volle Bedeutung erhalten? Was redest du nur von Lust? Des Menschen Bestes ist es, worauf ich es abgelegt habe, nicht des Bauches, der geräumiger ist beim Vieh und beim Wild.

10. »Du willst mich absichtlich nicht verstehen«, entgegnest du: »behaupte ich doch, niemand könne lustvoll leben, wenn er nicht gleichzeitig auch tugendhaft lebt, was bei verstandlosen Tieren nicht möglich ist wie überhaupt nicht bei solchen, die ihr ganzes Glück im Essen finden. Klar und offen, behaupte ich, trete ich dafür ein, daß dasjenige Leben, das ich als lustvolles bezeichne, ohne Einfluß der Tugend nicht möglich ist.« Gut. Aber wer weiß nicht, daß gerade die Stumpfsinnigsten es am meisten mit diesen euren Erlustigungen halten, und daß das Laster in Lustbarkeiten geradezu schwelgt, ja, daß die Seele selbst darauf ausgeht, allerlei verderbliche Arten der Lust für sich ausfindig zu machen? Vor allem Übermut und Selbstüberschätzung und eine über die anderen sich erhaben dünkende Aufgeblasenheit; ferner blinde und jeder Umsicht bare Verliebtheit in alles Eigene, reichliche Üppigkeit, stürmisches Frohlocken über Kleinigkeiten und Kindereien, ferner witzelnde Geschwätzigkeit und hoffärtige Schmähsucht, mattherzige und schläfrige Trägheit und Schlaffheit. Mit alle dem räumt die Tugend gründlich auf, hält strenge Musterung und schätzt die Lüste gegeneinander ab, ehe sie Zulaß gewährt; ja, selbst diejenigen, denen sie ihre Billigung nicht versagt hat, schätzt sie nicht hoch ein oder läßt sie unter allen Umständen zu: was ihr Freude macht, ist nicht der Genuß, sondern die Mäßigung im Genuß. Die Mäßigung aber mindert den Einfluß der Lüste, und darum vergreift sie sich an deinem höchsten Gute. Du umschlingst die Lust mit beiden Armen, ich dämpfe sie; du schwelgst in der Lust, mir ist sie nur Mittel zum Zweck; du hältst sie für das höchste Gut, ich überhaupt nicht für ein Gut; du tust alles der Lust wegen, ich nichts.

11. Wenn ich sage, ich tue nichts um der Lust willen, so rede ich von jenem Weisen, dem du allein die Lust (als berechtigtes Prinzip) zuerkennst. Ein Weiser aber ist in meinen Augen nicht der, der noch irgend etwas über sich hat und vollends gar die Lust: von ihr beherrscht, wie könnte er die Widerstandskraft finden gegen Mühsal und Gefahr, gegen Armut und gegen die zahlreichen das Menschenleben umschwirrenden Bedrohungen? Wie wird er den Anblick des Todes, wie die Schmerzen aushalten? Wie das Krachen des Weltgefüges und die gewaltigen Scharen grimmigster Feinde, er, der sich von einem so weichlichen Gegner hat überwinden lassen? »Alles, wozu die Lust ihm rät, wird er tun.« Schau* hin! Siehst du nicht, wie vieles sie ihm anraten wird? »Sie kann ihm nichts Schimpfliches raten«, lautet die Entgegnung, »weil sie Gefährtin der Tugend ist.« Siehst du da nicht abermals, wie es mit dem höchsten Gute bestellt ist, das eines Wächters bedarf, um überhaupt ein Gut zu sein? Wie aber wäre die Tugend imstande, die Lust zu beherrschen, deren Wink sie folgt? Ist Folgsamkeit nicht Sache des Gehorchenden, Leitung Sache des Befehlenden? Kehrst du die Stellung von beiden um? Ein herrliches Amt aber hat bei euch die Tugend als Vorkosterin im Dienste der Lust! Doch es wird sich herausstellen, ob bei denen, die mit der Tugend so schmachvoll umgehen, überhaupt noch von Tugend die Rede ist; kann sie doch ihren Namen nicht mehr führen, wenn sie von ihrem Platze hat weichen müssen. Einstweilen genügt es, hinsichtlich des vorliegenden Themas euch zahlreiche Beispiele anzuführen von Männern, die ganz den Lüsten ergeben, vom Glück mit allen seinen Gaben überschüttet wurden, und von denen du gleichwohl eingestehen mußt, daß sie erbärmliche Gesellen waren. Schau hin auf euern Nomentanus und Apicius, die die Leckerbissen von Land und Meer - diese köstlichen Güter, wie sie sie nennen - verdauen und auf ihrem Tische eine Musterkarte der ganzen Tierwelt ausgebreitet sehen. Schau' hin auf diese Nämlichen, wie sie auf Rosenlager gebettet ihre Blicke über die Erzeugnisse ihrer Garküche schweifen lassen, wie sie ihre Ohren weiden am Klange der Gesänge, ihre Augen an Schauspielen, ihren Gaumen an Leckerbissen! Durch weiche und sanfte Wärmkissen wird ihr ganzer Leib zur Empfänglichkeit angeregt, und, um auch die Nase mit zu beschäftigen, wird auch der Ort selbst, wo man der Üppigkeit opfert, mit allerhand Wohlgerüchen erfüllt. Von diesen mußt du doch sagen, daß sie in Lustbarkeit leben, und doch wird ihnen nicht wohl sein, weil es kein Gut ist, an dem sie ihre Freude haben.

12. »Allerdings«, heißt es darauf, »wird es ihnen nicht wohl zumute sein; denn es kommt ihnen mancherlei der Quere, was sie in ihrer Stimmung stört, und der Zwiespalt in ihrem Inneren wird ihren Geist beunruhigen.« Daß dem so sein wird, gebe ich zu; allein nichtsdestoweniger werden jene Toren selbst trotz ihrer inneren Unausgeglichenheit und trotz des Druckes der Reue, unter dem sie liegen, große Lustempfindungen genießen, so daß man gestehen muß, sie seien in solcher Lage von jedem Gefühl der Belästigung ebensoweit entfernt wie von der rechten Sinnesart, und, wie das bei den meisten der Fall ist, sie seien in einem heiteren Wahnsinn und in lachender Tollheit befangen. Dagegen sind die Lustempfindungen der Weisen zurückhaltend, maßvoll und beinahe matt, gedämpft und kaum bemerkbar; stellen sie sich ja doch ungerufen ein, und obschon sie sich von selbst eingefunden haben, werden sie doch nicht mit hohen Ehren und mit besonderer Freude von Seiten der Genießenden empfangen; man mischt sie ins Ganze mit ein und gewährt ihnen einen Anteil am Leben, wie man Spiel und Scherz dem Ernste beigesellt.

Weg also mit dieser Verdoppelung des nicht Zusammengehörigen, mit dieser Verflechtung der Lust und der Tugend, einer Verkehrtheit, mit der man nur den verworfensten Gesellen schmeichelt! Siehe da diesen ausgemachten Wollüstling, der sich immer wieder entlädt und in Trunkenheit taumelt: er weiß, daß er ein lustvolles Leben führt, und darum glaubt er, dies Leben sei auch ein tugendhaftes; hört er doch von anderen, die Lust sei untrennbar von der Tugend, und darum gibt er seine Laster für Weisheit aus und bekennt sich offen zur Schamlosigkeit. Es ist also nicht Epikur, von dem sie den Antrieb zu ihrer Schwelgerei erhalten haben; nein, ihren Lastern ergeben, verbergen sie ihre Genußsucht in den Falten seines Philosophenmantels und drängen sich dahin, wo, wie sie hören, das Lob der Lust erklingt. Und dabei beachten sie nicht - und das ist wahrhaftig meine Überzeugung -, wie nüchtern und trocken sich die Lust in der Auffassung Epikurs darstellt, sondern der bloße Name macht, daß sie herbeieilen, um. für ihre Lustbegierden einen Schirm und Schleier zu finden. So geht ihnen denn auch das einzige Gute verloren, was sie in ihrer Schlechtigkeit noch hatten, die Scheu vor der Sünde. Denn sie loben nun das, wovor sie vorher immerhin noch erröteten; ja sie rühmen sich nun ihres Lasters; und so darf jene verschwindende Scheu überhaupt nicht wagen, sich wieder zur Geltung zu bringen, nachdem das schimpfliche Lotterleben einmal einen ehrbaren Titel bekommen hat. Darin liegt der Grund des verderblichen Einflusses jener Anpreisung der Lust: was sittlich aufklärend und belehrend wirkt, das entzieht sich zunächst den Blicken; was aber die Sitten verdirbt, das liegt offen zu Tage.

13. Ich selbst bin trotz des vermutlichen Widerspruchs meiner philosophischen Zunftgenossen der Meinung, daß des Epikur Lehre sittlich tadelfrei und richtig ist und, wenn man ihr näher tritt, sogar nicht frei von einer gewissen Härte; denn jene Lust wird im Grunde auf ein äußerst bescheidenes Maß zurückgeführt, und die Forderung, die wir an die Tugend stellen, stellt er an die Lust: sie soll der Natur gehorchen; der Natur aber genügt ein äußerst bescheidenes Maß von Üppigkeit. Wie steht es also? Jener, der seine Faulenzerei und den Wechsel von Küche und Bordell Glück nennt, sucht nach einem ehrenwerten Gewährsmann für eine schlechte Sache, und ist er, angelockt durch den verführerischen Namen, an Ort und Stelle angelangt, dann ergibt er sich der Lust, und zwar nicht der, von welcher er dort hört, sondern der, die er selber mitgebracht hat, und hat er sich einmal eingeredet, seine Laster stünden mit der Lehre in leidlicher Übereinstimmung, so fröhnt er ihnen ohne Scheu und wirft sich der Schwelgerei in die Arme nicht mehr im Verborgenen, sondern fortab erhobenen Hauptes. Daher behaupte ich nicht, wie die meisten der Unseren, Epikurs Schule sei eine Lehrerin der Laster; vielmehr lautet meine Behauptung so: man spricht übel von ihr, sie ist verrufen und zwar mit Unrecht. Wie kann das einer wissen, wenn er nicht in ihr eigentliches Heiligtum Zutritt erhalten hat? Ihre Außenseite ist es eben, die unwillkürlich Anlaß zu solchem Grunde gibt und zu schlimmen Erwartungen verleitet. Es steht damit, wie mit einem Helden, der sich in Weiberkleidung gehüllt hat. Du bist deiner Ehrbarkeit sicher, deine Mannbarkeit ist unangetastet, dein Körper frei von jeder schimpflichen Berührung; aber in der Hand führst du die Pauke. Möge man also eine ehrbare Aufschrift und äußere Bezeichnung wählen, die schon durch sich selbst der Seele eine Anregung gibt! Diejenige Bezeichnung, die sich für diese Schule eingebürgert hat, schmeichelt dem Körper und hat geradezu eingeladen zu den Lastern, die sich alsbald eingefunden haben. Wer zur Sache der Tugend hält, der legt auch Proben ab von seiner edlen Anlage; wer aber der Lust nachgeht, der zeigt sich entnervt, geknickt, der Männlichkeit bar und in Gefahr, der Schande zu verfallen, wenn ihm nicht einer klaren Aufschluß gegeben hat über die unterschiedlichen Arten der Lust, um ihn zu der Erkenntnis zu bringen, welche von ihnen sich innerhalb des natürlichen Bedürfnisses halten, und welche von ihnen blindlings dahin stürmen und sich ins Grenzenlose verlieren und um so unersättlicher sind, je mehr sie gesättigt werden. Wohlan denn, man lasse der Tugend den Vortritt, und jeder Schritt wird gesichert sein. Ein Übermaß von Lust ist schädlich: bei der Tugend braucht man nicht zu fürchten, daß ein Übermaß bei ihr eintrete, denn in ihr selbst liegt ja das Maß. Das ist kein Gut, was mit seiner eigenen Größe zu ringen hat. Wer von Natur ein vernunftbegabtes Wesen ist, was kann dem Besseres dargeboten werden als die Vernunft? Und wenn du Gefallen findest an jener Verdoppelung von Tugend und Lust und nur in diesem Geleite den Weg zum glücklichen Leben zurücklegen willst, gut, so gehe die Tugend voran, die Lust sei nur ihr Begleiter und schwebe wie ein Schatten um den Körper. Die Tugend, diese erhabenste Herrscherin, zur Magd der Lust zu machen, dazu kann nur der sich verstehen, dem für wirkliche Größe jede Auffassung fehlt.

14. Voran gehe die Tugend, sie sei die Bannerträgerin; an Lust wird es uns trotzdem nicht fehlen; doch werden wir sie zu beherrschen und zu mäßigen wissen; durch Bitten wird man uns etwas abgewinnen können, durch Zwang niemals. Dagegen bringen sich diejenigen, die der Lust den Vorrang einräumen, um beides; denn die Tugend geht ihnen verloren, und was die Lust betrifft, so sind sie nicht Herren derselben, sondern ihre Sklaven, indem sie entweder durch den Mangel daran gequält oder durch die Überfülle erstickt werden, erbarmungswert, wenn sie sich, von ihr verlassen sehen, erbarmungswerter, wenn sie von ihr überschüttet werden, ähnlich denen, die den Gefahren des Syrtenmeeres preisgegeben sind und die bald auf dem Trockenen sitzen bleiben, bald wieder in wogender Flut dahingeschaukelt werden. Das ist die Folge des Übermaßes an Zügellosigkeit und der (blinden) Vernarrtheit in wer weiß was; denn wessen Streben statt auf Gutes auf Schlechtes gerichtet ist, für den ist es gefährlich, seinen Wunsch zu erreichen. Wie wir auf wilde Tiere mit Mühe und Gefahr Jagd machen und selbst, wenn es gelungen ist sie einzufangen, ihr Besitz doch kein unbedenklicher ist - denn oft zerfleischen sie ihre Herren -, so steht es auch mit den starken Aufregungen der Lust: sie schlagen zum großen Unheil aus, und, in unsere Gewalt gebracht, bewältigen sie uns selbst. Je zahlreicher und größer sie sind, um so tiefer sinkt der, den die Menge den Glücklichen nennt, und um so größer ist die Zahl derer, deren Sklave er ist.

Ich möchte bei diesem Bild noch etwas länger verweilen: Wie der Jäger, der das Lager des Wildes aufspürt und nicht geringen Wert darauf legt mit der Schlinge zu fangen das Wild und mit Hunden zu sperren den weit sich dehnenden Bergwald, um seiner Spur zu folgen, Wichtigeres im Stich läßt und sich vielen Obliegenheiten entzieht, so läßt der, welcher der Lust nachjagt, alles andere liegen, und die Freiheit ist das erste, was er preisgibt und seinem Bauche opfert: weit entfernt, sich die Lust zu erkaufen, verkauft er vielmehr sich selbst der Lust.

15. »Aber was steht denn«, heißt es zur Erwiderung darauf, »dem im Wege, daß Tugend und Lust sich zur Einheit verschmelzen und so das höchste Gut geschaffen wird, dergestalt, daß zwischen Sittlichkeit und Lust kein Unterschied mehr besteht?« Darum, weil, was ein Teil des Sittlichen ist, notwendig auch sittlich sein muß, und weil das höchste Gut sich nicht mehr im Vollbesitz seiner Reinheit fühlen wird, wenn es etwas in sich bemerkt, was von dem Besseren absticht. Auch die Freude, die der Tugend entquillt, so gut sie auch ist, ist doch kein Teil des unbedingt Guten, ebensowenig wie Fröhlichkeit und Ruhe, mögen die Ursachen, aus denen sie stammen, auch noch so schön sein; denn sie gehören zwar zu den Gütern, sind aber nur Folgen des höchsten Gutes, nicht eigentliche Bestandteile desselben. Wer aber Tugend und Lust zur Gemeinschaft verbindet und zwar nicht einmal mit gleichem Rang für beide, der schwächt durch die Gebrechlichkeit des einen Gutes alle Lebenskraft des anderen ab und macht die Freiheit, sie, die nur dann unüberwindlich ist, wenn sie nichts Wertvolleres über sich kennt, zur Sklaverei. Denn fortan bedarf sie der Gunst des Schicksals, und das ist die schwerste Knechtschaft. So kommt es denn zu einem Leben voll Angst, Mißtrauen, Zagen, Furcht vor dem Zufall und vor zeitlichen Wechselfällen. Du gibst der Tugend kein wuchtiges, unerschütterliches Fundament, sondern weisest ihr einen wandelbaren Standort an; was aber wäre so wandelbar als die Erwartung von Zufälligkeiten und die schwankende Beschaffenheit des Körpers und der den Körper beeinflussenden Dinge? Wie kann man da der Gottheit gehorsam bleiben und alles, was da kommen mag, mit edler Fassung über sich ergehen lassen ohne Klage über das Schicksal, vielmehr bereit, alles Schlimme zum Besten auszulegen, wenn man schon die leiseste Regung von Lust und von Schmerz über sich Herr werden läßt? Ja, selbst dem Vaterlande kann man kein Beschützer oder Retter sein, sowenig wie ein Verteidiger seiner Freunde, wenn unsere Neigung nun einmal den Lüsten zugewendet ist. Es muß also das höchste Gut sich zu jenem Punkte erheben, von dem es durch keine Gewalt herabgezogen werden kann, zu dem weder Schmerz noch Hoffnung noch Furcht noch sonst irgend etwas Zutritt hat, was dem guten Rechte des höchsten Gutes Eintrag tun könnte. Diese Höhe kann aber nur die Tugend erklimmen. Ihren Schritt muß man einhalten, um jenem Gipfelpunkt siegreich beizukommen. Sie wird heldenhaft standhalten und was auch kommen mag ertragen, nicht nur geduldig, sondern auch willig, und wird sich immer dessen bewußt sein, daß jede zeitliche Schwierigkeit in dem Gesetz der Natur begründet ist; sie wird wie ein braver Soldat sich ihre Wunden gefallen lassen, wird ihre Narben zählen und, von Geschossen durchbohrt, sterbend noch denjenigen lieben, für den sie fällt, ihren Feldherrn; es wird ihr der alte Spruch vorschweben: folge der Gottheit! Wer aber klagt und jammert und seufzt, der wird gewaltsam gezwungen, dem Befehle, nachzukommen und trotz allen Widerstrebens zum Gehorsam genötigt.

Welche Torheit aber ist es, sich zwingen zu lassen, statt folgsam zu sein. Wahrhaftig, ebenso wie es Einfältigkeit und Verkennung der eigenen Lebensbedingungen ist, wenn man sich darüber grämt, daß man auf etwas verzichten muß oder einen Stein des Anstoßes wegzuräumen hat, nicht minder auch, wenn man sich verwundert oder unwillig ist über Dinge, von denen die Guten ebensowenig verschont bleiben wie die Bösen, als da sind Krankheiten, Todesfälle, Gebrechlichkeit und was sonst dem menschlichen Leben in die Quere kommt. Was nach dem unabänderlichen Weltenplan an Leiden uns auferlegt ist, das müssen wir guten Mutes auf uns nehmen. Wie durch Fahneneid sind wir verpflichtet, uns mit dem Los der Sterblichkeit abzufinden und uns nicht irre machen zu lassen durch das, was zu meiden nicht in unserer Macht steht. Wir leben in einer Monarchie: der Gottheit zu gehorchen ist Freiheit.

16. In der Tugend aber ist das Glück begründet. Diese Tugend aber, welche Ratschläge wird sie dir erteilen? Du sollst nichts für ein Gut oder für ein Übel halten, für dessen Vorkommen weder Tugend noch Bösartigkeit in Frage kommt; sodann mußt du unerschütterlich deinen Platz behaupten, sowohl im Kampf gegen das Schlechte, wie in der Verteidigung des Guten, um, soweit es möglich ist, dich zu einem Ebenbild Gottes zu machen. Was verspricht sie dir für die Mühen dieses Feldzuges? Einen erhabenen und fast göttlichen Lohn: Du wirst zu nichts gezwungen sein, wirst niemandes Hilfe bedürfen, wirst frei sein, sicher und ungeschädigt; nichts wirst du vergebens in Angriff nehmen, in nichts gehindert werden; alles wird dir nach Wunsch gehen, nichts gegen deine Annahme und deinen Willen. »Also wie? Reicht die Tugend aus zum glücklichen Leben?« In ihrer Vollendung und Göttlichkeit - warum sollte sie nicht ausreichen, ja ihre Gaben sogar im Überfluß bieten? Denn was könnte dem fehlen, der jedes Wunsches bar ist? Was braucht der von außen her, der alles, dessen er bedarf, in sich selbst gesammelt hält? Wer dagegen erst zur Tugend hinanstrebt, der bedarf, wenn er auch schon weit fortgeschritten ist, doch noch einiger Gunst des Schicksals; denn noch hat er mit menschlicher Unzulänglichkeit zu ringen, bis er jeden Knoten löst und jede Fessel der Sterblichkeit sprengt. Worin besteht also der Unterschied? Darin, daß die einen fest an das Irdische gebunden, die anderen an ihren Beruf gefesselt oder auch mit Geschäften überhäuft sind, während der, der zum Höheren fortschreitet und sich aufwärts bewegt, nur eine lose Kette noch an sich trägt, noch nicht der vollen Freiheit teilhaftig, aber doch beinahe so gut wie ein Freier.

17. Wenn also einer von denen, die gegen die Philosophie losbelfern, in gewohnter Weise sagt: »Warum bist du im Worte tapferer als im Leben? Warum sprichst du einem Höheren nach dem Munde, warum hältst du Geld für ein dir unentbehrliches Hilfsmittel, warum erregst du dich über Verluste, warum vergießt du Tränen bei der Nachricht von dem Tode der Gattin oder eines Freundes, und warum kümmerst du dich um das Gerede der Leute und fühlst dich durch ihre bösen Zungen verletzt? Warum ist dein Landgut besser gepflegt, als es der natürliche Bedarf erfordert? Warum hältst du dich mit deiner Mahlzeit nicht an deine eigene Vorschrift? Warum hast du so zierliche Hausgeräte? Warum trinkt man bei dir Wein, der älter ist als du selbst? Warum wendet man Sorge auf das Landschaftsbild? Warum pflanzt man Bäume, die weiter sonst nichts hergeben als Schatten? Warum trägt deine Frau das ganze Vermögen eines reichen Hauses als Schmuck an den Ohren? Warum werden deine Sklaven in kostbare Kleider gesteckt? Warum wird bei dir eine Kunst daraus gemacht, die Gäste zu bedienen, warum wird das Silbergeschirr nicht nach Zufall und Belieben, sondern mit Sachkenntnis aufgestellt, warum gibt es einen besonderen Vorschneider des Fleisches?« Beliebt dir's, so kannst du in diesem Tone noch fortfahren: »Warum hast du Besitzungen jenseits des Meeres? Warum mehr als du kennst? Warum bist du zu deiner Schande entweder so unachtsam, daß du deine Handvoll Sklaven nicht kennst, oder so verschwenderisch, daß du mehr hast, als daß dein Gedächtnis ausreichte, dir ihre Namen zu merken?« - Ich werde weiterhin deine Schmähungen noch verstärken und mir mehr Vorwürfe machen, als du es für möglich hältst. Für den Augenblick beschränke ich mich auf folgendes: Ich bin kein Weiser, und - um deinem Übelwollen noch mehr Nahrung zu geben - ich werde es auch nicht werden. Verlange also nicht von mir, daß ich den Besten gleich sei, sondern nur, daß ich besser sei als die Schlechten. Es ist mir genug, wenn ich Tag für Tag meine Fehler um etwas herabmindere und mir über meine Verirrungen Vorhalt tue. Ich bin nicht zu voller Gesundheit gelangt, und ich werde es auch nicht; es sind mehr Linderungsmittel als Heilmittel für mein Podagra, mit dem ich mir zu schaffen mache, zufrieden, wenn es sich seltener einstellt und weniger Plage macht. Indes mit eurem Gehwerk verglichen, ihr Schwächlinge, bin ich ein Läufer. Das sage ich nicht in meinem Namen - denn ich fühle mich noch mitten im Gewoge aller Fehler -, sondern im Namen eines derer, die bereits etwas vor sich gebracht haben.

18. »So sprichst du«, heißt es darauf, »aber dein Leben nimmt sich ganz anders aus.« Das ist der Vorwurf, ihr bösartigen und gerade den besten Männern aufsässigsten Gesellen, der dem Platon, der dem Epikur, der dem Zenon gemacht worden ist. Alle diese Männer wollten ja keine Auskunft geben darüber, wie sie selbst lebten, sondern wie zu leben ihnen selbst von nöten wäre. Von der Tugend rede ich, nicht von mir, und wenn ich die Laster schmähe, so schmähe ich an erster Stelle die meinigen. Sobald ich die Kraft dazu erlangt habe, werde ich leben, wie es sich gehört. Und eure in Gift getauchte Bosheit soll mich nicht abschrecken von dem unbedingt Guten; selbst das Gift, mit dem ihr andere bespritzt, euch selbst aber tötet, soll mich nicht abhalten, ohne Unterlaß ein Leben zu preisen, nicht wie ich es führe, sondern wie es nach meiner festen Überzeugung geführt werden muß, soll mich nicht abhalten, die Tugend anzubeten und in weitestem Abstand mich mühselig ihr nachzuschleppen. Soll ich denn etwa erwarten, daß von der Böswilligkeit irgend etwas verschont bleibe, von ihr, der weder ein Rutilius noch ein Cato heilig war? Was hat es denn auf sich, wenn diesen Leuten, denen der Zyniker Demetrius nicht arm genug ist, irgend jemand zu reich vorkommt? Von einem Mann strengster Selbstzucht, der gegen alle Bedürfnisse der Natur den Kampf besteht, und der um so ärmer ist als die übrigen Zyniker, weil, während diese sich nur den Besitz versagt haben, er auch schon das Verlangen danach sich versagte - von einem solchen Manne wagen sie zu behaupten, er sei nicht dürftig genug! Denn du weißt: er ist nicht nur ein Lehrer der Tugend, sondern auch der Armut.

19. Diodorus, ein Epikureischer Philosoph, der sich kurzweg entschloß, seinem Leben mit eigener Hand ein Ende zu machen, hat, so behauptet man, nicht nach den Grundsätzen Epikurs gehandelt, wenn er sich die Kehle abschnitt: die einen erklären diese Tat für Wahnsinn, die anderen für Unbesonnenheit. Er indes hat, im Gefühl seines Glückes und mit seinem Gewissen völlig im reinen, sich beim Scheiden aus dem Leben selbst ein Zeugnis ausgestellt: er pries die Ruhe seines im Hafen angelangten und vor Anker gegangenen Lebens und bekräftigte, dies durch die Worte, die ihr mit Unbehagen vernähmet, als ob ihr dem Beispiele folgen solltet: Ja, ich habe gelebt, vollendend, was mir beschieden.

Ihr redet hin und her über des einen Leben und über des anderen Tod, und bei Nennung großer und rühmlich bekannter Männer belfert ihr wie kleine Hunde, denen unbekannte Menschen in den Weg kommen; denn für euch ist es vorteilhaft, daß niemand als gut gilt, weil die Tugend anderer sich wie ein Vorwurf ausnimmt für alle Schurken. Voll Neid vergleicht ihr Glanzvolles mit eurem Schmutz und habt kein Einsehen dafür, welchen Schaden ihr von diesem Wagnis zu gewärtigen habt. Denn wenn diejenigen, die es mit der Tugend halten, habsüchtig, wollüstig, ehrgeizig sind, was seid denn dann ihr, denen schon der Name Tugend ein Greuel ist? Ihr behauptet, niemand handle so, wie er sich in Worten gibt, niemand lebe nach dem Muster, das er im Munde führt. Was Wunder? Reden sie doch von Heldentaten, von Dingen, die noch nie dagewesen und die über alle Stürme des Menschenlebens hinausgehen; denn sie suchen sich loszureißen von den Marterpfählen, an die ein jeder von euch sich selbst eigenhändig festnagelt; kommt es aber zur Todesstrafe, so hängt jeder nur an einem einzigen Marterpfahl; diejenigen dagegen, welche auf sich selbst acht haben, sind nicht an einem Pfahl angenagelt, sondern an so vielen, als sie Leidenschaften in sich bergen. Sie sind Lästerer und haben eine starke Ader für Schmähungen gegen andere. Ich möchte glauben, sie würden das unterlassen, wenn nicht manche noch vom Galgen herab die Zuschauer mit ihrem Auswurf besudelten.

20. »Die Philosophen leisten nicht, was sie in Worten lehren.« Aber sie leisten eben dadurch, daß sie lehren, daß sie edle Ziele geistig erfassen. Denn wenn sie gründlich genau ihren Worten gemäß handelten, was gäbe es Beglückteres als sie? Vor der Hand liegt kein Grund vor, gute Worte und aus gutem Herzen kommende treffliche Gedanken zu verachten. Die Beschäftigung mit heilsamen Studien bleibt löblich auch ohne den tatsächlichen Erfolg. Was Wunder, wenn diejenigen, die steile Höhen in Angriff genommen haben, nicht bis zum Gipfel hinauf gelangen? Aber wenn du das Herz auf dem rechten Flecke hast, so versage denen, die Großes versuchen, auch wenn sie stürzen, nicht deine Achtung! Es zeugt von edler Sinnesart, wenn man, nicht sowohl die eigene Kraft dabei in Rechnung ziehend als die unserer Menschennatur überhaupt, sich an hohe Aufgaben wagt und sich im Geist höhere Ziele setzt, als wie sie auch hervorragend begabte Männer erreichen können. Nimm an, es stelle sich einer die Aufgabe: »Beim Anblicke des Todes soll meine Miene keine andere sein als bei dem einer Komödie. Keine Anstrengungen, sie mögen so groß sein wie sie wollen, werde ich scheuen; denn ich mache den Geist zur Stütze des Körpers. Reichtümer werde ich verachten, gleichviel ob sie mir gehören oder einem anderen, weder trauriger gestimmt, wenn sie anderswo lagern, noch fröhlicher, wenn sie mich selbst umstrahlen. Mit dem Glück habe ich nichts zu schaffen, mag es nun kommen oder weichen. Alle Länder will ich als eigenen Besitz betrachten, den meinigen als den aller. Mein Leben soll geleitet sein von dem Bewußtsein, daß ich für andere geboren bin, und ich werde der Mutter Natur dafür dankbar sein; denn wie konnte sie besser für mich sorgen? Mich, den einen, hat sie allen geschenkt, mir, dem einen alle. Was ich auch habe, ich werde es weder knauserig behüten noch verschwenderisch ausstreuen. Alles soll mir nur als gütiges Geschenk, nicht als eigentlicher Besitz gelten. Meine Wohltaten werde ich nicht nach Zahl oder Gewicht schätzen, nein, nur nach dem Wert des Empfängers. Was ein Würdiger empfängt, ist in meinen Augen immer noch zu wenig. Nicht beliebige Meinung, sondern nur feste Überzeugung soll all mein Handeln leiten. Was ich auf Grund meiner vollen Überzeugung tue, das gilt mir so viel, als geschähe es unter den Augen des ganzen Volkes. Der Zweck des Essens soll mir kein anderer sein als Befriedigung des natürlichen Bedürfnisses, nicht Füllung und Entleerung des Bauches. Gegen Freunde will ich gefällig und entgegenkommend, gegen Feinde mild und verträglich sein. Zum Gewähren will ich bereit sein, noch ehe man mich bittet, und anständigen Bitten werde ich halbwegs entgegenkommen. Mein Vaterland, des bin ich gewiß, ist die Welt, und seine Vorsteher sind die Götter; sie stehen über mir und umgeben mich als Richter über meine Taten und Worte. Und wenn entweder die Natur mein Leben zurückfordert oder die eigene wohlüberlegte Entscheidung ihm entsagt, dann werde ich scheiden mit dem Zeugnis, daß ich ein gutes Gewissen geliebt und Edles erstrebt habe, daß durch mich keines Menschen Freiheit gemindert, am wenigsten meine eigene gemindert worden sei.« - Wer sich solche Ziele setzt, solches will und in Angriff nimmt, der wandelt den Weg, der zu den Göttern führt; ja, wenn er auch nicht ans Ziel gelangt, so war's doch ein großes Beginnen.

Ihr aber, ihr Lästerer, die ihr die Tugend haßt und den, der sie hochhält, euer Treiben ist nicht ohne Beispiel. Scheuen ja doch auch kranke Augen das Sonnenlicht, und wenden sich doch auch Nachttiere von dem hellen Tageslicht ab: schon bei der ersten Dämmerung werden sie stutzig und suchen allerseits ihre Schlupfwinkel auf und verbergen sich lichtscheu in den engsten Öffnungen. Nur zu! Macht eurem Ärger Luft und übt eure unselige Zunge im Schmähen der Guten, schnappt nach ihnen und beißt sie: weit eher werdet ihr euch die Zähne ausbeißen, als euer Absehen damit erreichen.

21. »Warum«, sagt man, »bleibt jener dort bei all seiner Philosophie im Leben doch ein reicher Mann? Warum nennt er den Reichtum verächtlich und bleibt doch in seinem Besitz? Warum erklärt er das Leben für verachtenswert und lebt doch? Warum die Gesundheit für verachtenswert und hütet sie doch auf das sorgsamste und wünscht sich die beste? Auch Verbannung erklärt er für ein leeres Wort und sagt: was ist es denn für ein Unglück, eine Gegend mit der anderen zu vertauschen? Gleichwohl zieht er es, wenn möglich, vor, im Vaterlande seine alten Tage hinzubringen. Zwischen längerer und kürzerer Frist, sagt er, sei kein Unterschied; gleichwohl dehnt er, wenn nichts hindert, seine Lebenszeit aus und freut sich noch in hohem Greisenalter friedlich seines Lebens?« Allerdings, erwidere ich, erklärt er diese Dinge für verachtenswert, aber nicht, man solle auf ihren Besitz überhaupt verzichten, sondern man solle nur nicht ängstlich an ihrem Besitze festhalten; er weist sie nicht von sich ab, aber muß er sich von ihnen trennen, so läßt er sie ohne Kümmernis ziehen. Was vor allem den Reichtum anlangt, wo wird ihn das Schicksal sicherer verwahrt wissen als da, von wo es ihn wieder zurückerhalten wird, ohne jede Klage dessen, der ihn zurückgibt? Als Marcus Cato den Curius und Coruncarius pries und jenes Zeitalter, in dem eine Handvoll Silberblechgeräte ein Verbrechen war, gegen das der Censor einschreiten müßte, war er selbst im Besitze von vierzig Millionen Sestertien. Das war ohne Zweifel weniger, als Crassus, aber mehr als Cato Censorius besaß. Vergleicht man, so war er seinem Urgroßvater weiter voraus als Crassus ihm, und hätten sich ihm noch größere Schätze geboten, er hätte sie nicht zurückgewiesen. Denn der Weise hält sich nicht irgendwelcher Glücksgaben für unwert; er liebt den Reichtum nicht, aber gegebenen Falles gibt er ihm den Vorzug; er schließt ihn nicht in sein Herz, wohl aber in sein Haus ein; er weist den Besitz nicht zurück, sondern hält ihn zusammen und sieht es nicht ungern, daß seiner Tugend reichere Mittel zu Gebote stehen.

22. Wie kann aber ein Zweifel darüber bestehen, daß dem Weisen der Reichtum mehr Gelegenheit bietet, seinen Geist vielseitig zu entfalten, als die Armut? Besteht doch im Falle der Armut die Tugendbetätigung wesentlich nur darin, sich nicht beugen und drücken zu lassen, während der Reichtum einen weiten Spielraum bietet für Bewährung von Mäßigkeit, Freigebigkeit, Achtsamkeit, ordnendem Überblick und Großzügigkeit. Der Weise wird sich nicht verächtlich vorkommen, auch wenn er noch so klein von Natur ist; gleichwohl würde er es gern sehen, wenn er hohen Wuchses wäre. Auch körperlich schwach und eines Auges verlustig wird er sich gesund fühlen; gleichwohl würde es ihm lieber sein, wenn er körperlich kräftiger wäre, dabei immer sich dessen bewußt, daß er in sich noch etwas Stärkeres hat. Mangelhafte Gesundheit wird er zu tragen wissen, sich aber feste Gesundheit wünschen. Es gibt so manches, was zwar für den Kern der Sache wenig in Betracht kommt und uns ohne Vernichtung des Hauptgutes entzogen werden kann, was aber gleichwohl seinen Beitrag liefert zur andauernden Fröhlichkeit, die aus der Tugend entspringt. Der Reichtum regt den Weisen an und heitert ihn auf, ähnlich wie den Seereisenden ein günstiger, die Segel schwellender Wind, oder wie ein heiterer Tag und sonniger Platz im Winter und bei Frost.

Welcher Weise ferner - ich rede von den unsrigen (den Stoikern), denen die Tugend als einziges Gut gilt - stellt in Abrede, daß die Dinge, die wir als gleichgültig bezeichnen, gleichwohl einen gewissen Wert haben und eine Abstufung dieser Werte zeigen? Manche von ihnen schätzt man bis zu einem gewissen Grade, auf einige legt man hohen Wert. Laß dich also nicht irre machen: der Reichtum gehört zu den geschätzten Dingen. Du entgegnest: »Nun, was spöttelst du denn dann über mich, wenn er in deinen Augen ebensoviel gilt wie in den meinen?« Willst du wissen, inwiefern dies nicht der Fall ist? Wenn der Reichtum mir entschwindet, so nimmt er mir nichts weg außer sich selbst; du aber wirst in solchem Falle außer dir sein und dir selbst wie verloren vorkommen, wenn er dich verlassen hat; bei mir gilt der Reichtum bis zu einem gewissen Grade, bei dir gilt er alles; kurz, ich bin Herr des Reichtums, du sein Sklave.

23. Laß also ab davon, den Philosophen das Geld zu verbieten. Niemand hat die Weisheit zur Armut verdammt. Der Philosoph mag reiche Schätze besitzen, aber Schätze, die niemandem abgepreßt und nicht mit fremdem Blut befleckt sind, Schätze, die ohne Unrecht gegen irgend jemand, ohne schmutzige Zugriffe erworben, Schätze, deren Abgang sich ebenso vollzieht wie ihr Zugang und über die niemand Ach und Weh ruft außer dem boshaften Neider. Häufe sie auf, so viel du willst, sie machen dir keine Schande; sie haben vieles an sich, was jeder gern sein nennen möchte, aber nichts, was irgendeinem ein Recht geben könnte, es sein zu nennen. Er, der Weise, wird die Gunst des Glückes nicht von sich weisen und wird sich des ehrbar erworbenen Erbgutes weder rühmen noch schämen. Indes kann er doch auch Grund finden, sich zu rühmen, wenn er sein Haus öffnet und der gesamten Bürgerschaft Zutritt gewährt und sagen kann: »Was ein jeder als das Seine erkennt, das kann er mitnehmen.« Welch hochstehender Mann, welches Muster eines Reichen, wenn er nach dieser Aufforderung um keinen Groschen ärmer ist! Das soll soviel heißen wie: wenn er allem Volk die Durchsuchung gestattet, wenn niemand bei ihm etwas fand, was er mit Beschlag belegen könnte, so kann er kühn und vor aller Augen seines Reichtums sich freuen. Der Weise läßt keinen Denar über seine Schwelle kommen, an dem ein Makel haftet, wird aber anderseits auch reiche Schätze als Gabe des Glückes und Frucht seiner Tugend nicht zurückweisen und ihnen die Tür verschließen. Denn warum sollte er ihnen denn nicht eine gute Unterkunft gönnen? Laßt sie nur kommen, sie sollen gute Aufnahme finden. Er wird mit ihnen weder prahlen noch sie verstecken - das eine würde von Albernheit, das andere von Furcht und Engherzigkeit zeugen, als hielte er eine große Kostbarkeit ängstlich unter seinem Gewand an die Brust gedrückt -; auch wird er sie, wie gesagt, nicht aus dem Hause hinauswerfen. Denn was sollte er denn zu seiner Rechtfertigung sagen? Etwa »Ihr seid mir nichts nütze« oder »Ich verstehe mich nicht auf Verwendung des Reichtums«? Wie er wohl imstande sein wird, einen Weg zu Fuß zurückzulegen, aber doch es vorziehen würde einen Wagen zu benutzen, so wird er zwar imstande sein sich der Vernunft zu fügen, aber doch den Wunsch haben, reich zu sein. Er wird also den Besitz reicher Mittel nicht abweisen, sie aber als unzuverlässige und flüchtige Gaben ansehen und es nicht dazu kommen lassen, daß sie irgendeinem anderen oder ihm selbst beschwerlich werden. Er wird seine Hand auftun - was spitzt ihr die Ohren? was schielt ihr nach dem Goldregen? - er wird seine Hand auftun für rechtschaffene Leute oder für solche, die er dazu machen kann; er wird seine Habe austeilen mit gewissenhafter Auswahl der Würdigsten, immer in dem vollen Bewußtsein, daß er Rechenschaft ablegen muß über Ausgaben so gut wie über Einnahmen, wird sie nie austeilen ohne berechtigte und billigenswerte Gründe - denn wenn ein Geschenk an den Unrechten kommt, so ist das eine Art schimpflicher Bankrott -, er wird offene, aber nicht durchlöcherte Taschen haben, aus denen viel herausgeht, aber nichts herausfällt.

24. Es ist ein Irrtum, zu glauben, das Schenken sei eine leichte Sache: die Sache hat vielmehr ihre großen Schwierigkeiten, wenn anders die Gabe auf Grund reiflicher Überlegung erfolgen und nicht nach Zufall oder plötzlicher Laune verschleudert werden soll. Die einen verpflichte ich mir im voraus zu Dank, den anderen vergelte ich, was ich empfangen; dem einen helfe ich aus, weil er es nicht verdient von der Armut erniedrigt und, wenn einmal von ihr befallen, in ihr festgehalten zu werden; manchen wiederum werde ich nichts geben trotz bestehenden Mangels, weil, wenn ich gebe, der Mangel doch gleich wieder da sein wird; manchen werde ich's anbieten, einigen sogar aufdrängen. Nachlässigkeit in dieser Beziehung ist mir unmöglich: niemals führe ich sorgfältiger Buch, als wenn es sich um Geschenke handelt. »Wie?«, bemerkst du, »schenkst du denn in Erwartung von Entgelt?« Nein, aber ich will auch nicht völlig darauf verzichten. Mein Geschenk soll von der Art sein, daß es zwar nicht zurückgefordert werden darf, aber eine Vergeltung möglich macht. Mit einer Wohltat soll es so bestellt sein, wie mit einem tiefvergrabenen Schatz: man darf ihn nicht eher ausgraben, als bis die Not dazu zwingt. Ferner, das Haus des Reichen selbst, wieviel Anlaß zum Wohltun bietet es! Denn wer sollte die Freigebigkeit nur auf die Vollbürger beschränken? Den Menschen als solchen mich nützlich zu erweisen befiehlt mir die Natur: ob sie Sklaven sind oder Freie, freigeboren oder freigelassen, ob sie ihre Freiheit auf dem Rechtsweg erworben haben oder durch das Wohlwollen von Freunden - was kommt darauf an? Überall, wo es Menschen gibt, hat auch die Wohltätigkeit ihre Stätte. Es kann das Geld auch innerhalb des Hauses verwendet werden und zu einer Schule der Freigebigkeit werden, die ihren Namen nicht daher hat, daß die Freien auf sie Anspruch haben, sondern daher, daß sie ihren Ursprung in einer freien Seele hat. Sie wird in der Hand des Weisen niemals an Schurken und Unwürdige verschwendet, noch ist sie jemals auf ihren verschlungenen Wegen so ermattet, daß sie nicht, so oft sie auf einen Würdigen trifft, wieder wie ein frischer Quell sprudelte.

Fasset also nicht falsch auf, was die der Weisheit Beflissenen so ehrenwert, tapfer und mutig kundtun, und vor allem vergesset nicht: etwas anderes ist, wer sich der Weisheit befleißigt, etwas anderes, wer bereits im Besitz der Weisheit ist. Jener wird dir sagen: »Meine Worte klingen sehr schön, aber noch stecke ich tief im Schlamm; du darfst mich nicht allzu streng beim Worte nehmen: nach Kräften fördere ich mich, bilde ich mich und strebe hinauf zu einem hohen Ideal; erst wenn ich so weit fortgeschritten bin, als ich mir vorgenommen, erst dann verlange, daß mein Tun meinen Worten entspricht!« Wer aber bereits auf der Höhe menschlicher Tugendhaftigkeit steht, der wird sich anders zu dir stellen und sagen: »Erstens bist du nicht der Mann danach, dir zu erlauben, über Bessere ein Urteil zu fällen; ich habe bereits - und das ist ein Beweis, daß ich nicht fehlgehe - die Erfahrung gemacht, daß ich den bösen Menschen mißfalle. Um dir jedoch Rede zu stehen, der ich mich keinem Menschen gegenüber entziehe, so vernimm, was ich verspreche und welchen Wert ich jedem Dinge beilege. Der Reichtum, behaupte ich, ist kein Gut; denn wäre er das, so würde er die Menschen gut machen. Tatsächlich aber findet er sich auch bei Schurken, und darum darf man ihn nicht ein Gut nennen. Und so spreche ich ihm denn diesen Namen ab. Gleichwohl gebe ich zu, daß man ihn haben darf, daß er nützlich ist und großen Vorteil für das Leben mit sich führt.

25. Wir sind also beiderseits darüber einverstanden, daß man sich des Reichtums nicht zu schämen brauche. So vernehmt denn nun, warum ich ihn gleichwohl nicht zu den Gütern rechne, und wie verschieden von den euren die Vorteile sind, die ich ihm abgewinne. Stelle dir vor, ich wäre Herr des glänzendsten Hauses, umgeben von lauter Gold- und Silbergeschirr: ich werde mir nichts einbilden auf diese Herrlichkeiten, die zwar rings um mich sind, aber nicht in mir. Bringe mich dagegen auf die Pfahlbrücke und reihe mich in die Schar der Bettler ein: ich werde deshalb nicht verächtlicher von mir denken, wenn ich meinen Platz unter denen habe, die ihre Hand nach einem Pfennig ausstrecken. Was macht es denn aus, ob ich keinen Bissen Brot mehr habe, wenn ich die Möglichkeit habe zu sterben? Wie steht es nun also? Ich ziehe jenes glänzende Haus der Brücke vor. Denke dir mich umgeben von glänzendem Gerät und in prachtstrotzender Zimmereinrichtung: ich werde mir nicht glücklicher vorkommen, wenn ich einen schmiegsamen Mantel trage, wenn meine Gäste auf Purpurdecken ruhen. Weise mir eine andere Matratze an: ich werde nicht unglücklicher sein, wenn mein müder Hals auf einem Bündel Heu ruht, oder wenn ich auf einem Cirkuskissen sitze, dessen Füllung durch die zersprungenen Nähte der alten Leinwand hervorquillt. Wie steht es nun? Lieber will ich in feiner Kleidung und geschmückt Zeugnis ablegen von meiner inneren Welt als mit nackten oder halb bedeckten Schulterblättern. Gesetzt, alle Tage verliefen mir nach Wunsch, ein Freudentag reihe sich an den anderen: das soll mir kein Grund zur Selbstzufriedenheit sein. Laß dagegen diese Gunst der Zeit ins Gegenteil umschlagen, laß mein Gemüt von Verlust, Trauer, Bitternissen aller Art erschüttert werden, laß keine Stunde vergehen ohne irgendwelche Klage: ich werde doch allem Übel zum Trotz mich nicht unglücklich nennen, werde deshalb nicht einen einzigen Tag verwünschen; denn ich habe mich vorgesehen, daß mir kein Tag zum Unglückstag werde. Wie steht es also? Lieber ist es mir, wenn ich in der Lage bin, meine Freude zu mäßigen, als wenn ich in die Lage komme, den Schmerz dämpfen zu müssen.«

So wird dir auch der große Sokrates sagen: »Mache mich zum Sieger über alle Nationen, laß mich auf dem prachtstrotzenden Bacchuswagen im Triumph vom Sonnenaufgang bis nach Theben fahren, laß die Könige der Erde mich als ihren obersten Richter anerkennen: ich werde mich gerade dann am meisten als Mensch fühlen, wenn man mich allerseits als Gottheit begrüßt. Neben dieser erhabenen Höhe denke dir alsbald eine jähe Umwandlung: Man setzt mich auf einen nicht mir gehörigen Tragsessel, um den Triumphzug eines stolzen und rohen Siegers zu verherrlichen: ich werde mich nicht erniedrigt fühlen, wenn ich hinter dem fremden Siegerwagen hergetragen werde, verglichen mit meinem früheren Standort. Wie steht es nun? Ich werde gleichwohl lieber Sieger als Gefangener sein. Das ganze Reich des Schicksals ist in meinen Augen nichtig; aber, habe ich die Wahl, so entscheide ich mich für das Günstigere. Was mich auch trifft, es soll mir recht sein; aber lieber wünsche ich mir doch das Leichtere und Angenehme und für den Betreffenden weniger Beschwerliche. Denn glaube ja nicht, es gebe irgendeine Tugend, die keine Anstrengung erfordere; aber die eine bedarf des Sporns, die andere des Zügels. Wie der Körper bei abschüssigen Stellen zurückgehalten, bei Erklimmung steiler Höhen angetrieben werden muß, so haben gewisse Tugenden eine abschüssige, andere eine ansteigende Bahn. Kein Zweifel: alle Tugenden, die im Kampfe liegen mit den Härten des Schicksals und die Macht desselben zu brechen wissen, als da sind Geduld, Tapferkeit, Beharrungskraft, müssen aufwärts klimmen, müssen sich stemmen und im Widerstand abmühen; und ist es nicht anderseits ebenso ersichtlich, daß Freigebigkeit, Mäßigung und Mildherzigkeit ihre Richtung nach abwärts haben? Bei diesen letzteren zügeln wir unseren Seelendrang, um Überstürzung zu verhüten; bei den ersteren muntern wir ihn auf und spornen ihn auf das schärfste an. Bei Armutaiso kommen jene kampfeslustigen, mehr der Tapferkeit huldigenden Tugenden in Betracht, bei Reichtum jene bedachtsameren, die den Schritt verlangsamen und den eigenen Drang hemmen. Was nun mein Verhältnis zu diesen beiden betrifft, so wünsche ich mir lieber diejenigen, die einer ruhigen Ausübung bedürfen, als diejenigen, deren Bewährung Blut und Schweiß fordert. Also - spricht der Weise - steht die Sache nicht so, daß ich anders lebe als rede, sondern ihr versteht es nur anders; nur der Schall der Worte trifft euer Ohr: nach ihrer Bedeutung fragt ihr nicht.«

26. »Welcher Unterschied also besteht zwischen mir, dem Toren, und dir, dem Weisen, wenn wir beide doch Wert auf Besitz legen?« Ein sehr erheblicher: bei dem Weisen ist der Reichtum nichts weiter als Sklave, bei dem Toren macht er sich zum Herrn. Der Weise gestattet dem Reichtum nichts, euch gestattet der Reichtum alles. Ihr gebärdet euch, als hätte euch irgend jemand den ewigen Besitz desselben zugesagt: ihr gewöhnt euch an ihn und verwachst mit ihm. Der Weise dagegen denkt gerade dann am angelegentlichsten an die Armut, wenn er sozusagen im Reichtum schwimmt. Niemals traut der Feldherr dem Frieden in dem Maße, daß er sich nicht bereit hielte für den Krieg, der, wenn er auch nicht zum Ausbruch kommt, doch angekündigt ist. Euch macht ein schöner Palast übermütig, als könnte er nicht durch Brand oder Einsturz vernichtet werden; euch raubt die Fülle des Besitzes jede Besinnung, als wäre er jeder Gefahr überhoben und viel zu groß, um dem Schicksal die Macht zu geben, damit aufzuräumen. Dem Müßiggang hingegeben, spielt ihr mit euerm Reichtum, ohne an die Gefahr zu denken, in der eben dieser Reichtum schwebt, ähnlich den Barbaren, die, von Feinden belagert und meist unkundig der Kraft der Maschinen, müßig der Arbeit der Belagerer zuschauen ohne jede Ahnung von dem Zweck dessen, was in der Ferne vorbereitet wird. Ebenso steht es mit euch: ihr duselt dahin in eurer Umgebung, ohne an die Unfälle zu denken, die euch bedrohen und bald kostbare Beute davontragen werden. Wie anders beim Weisen: wer ihm seinen Reichtum raubt, der muß ihm doch all das Seinige lassen; lebt er doch der Gegenwart froh und um die Zukunft unbekümmert. »Nichts«, sagt der große Sokrates oder wer sonst gegen menschliche Zufälle so gewappnet und selbstherrlich ist, »nichts habe ich mir fester zum Grundsatz gemacht, als meine Lebensführung nicht nach euren Vorurteilen zu gestalten. Laßt eure gewohnten Reden von allen Seiten mich umtönen: ich sehe darin keine Schmähungen, sondern nur das Geschrei von Kindern, die sich in elender Lage befinden.« So spricht der Mann, der der Weisheit teilhaftig geworden, den reines und schuldloses Gemüt zum Tadel gegen andere treibt, nicht, weil er sie haßt, sondern weil er sie bessern will. Er wird dem noch folgendes zufügen: »Was eure Meinung über mich anlangt, so bekümmert sie mich nicht um meinetwillen, sondern um euretwillen; denn seinen Haß und seine Feindschaft gegen die Tugend durch Schreien kundzugeben, heißt jeder vernünftigen Hoffnung den Abschied geben. Ihr tut mir kein Leid an, sowenig wie den Göttern die, die ihre Altäre umstürzen. Aber der böse Vorsatz und die schlimme Absicht leuchtet doch durch, auch da, wo sie nicht schaden kann. So lasse ich mir eure Irreden gefallen, wie Jupiter, der große, allmächtige, die Albernheiten der Dichter über sich ergehen läßt, von denen der eine ihm Flügel andichtet, der andere Hörner, der eine ihn als Ehebrecher und Nachtschwärmer einführt, der andere als grimmigen Gegner der Götter oder auch als Feind der Menschen, der eine als Räuber von freigeborenen und noch dazu ihm verwandten Jünglingen, der andere als Vatermörder und als Eroberer des nicht ihm, sondern seinem Vater gehörigen Reiches: Frechheiten, die nichts anderes zur Folge hatten, als daß den Menschen die Scham vor der Sünde abhanden kam, wenn sie den Göttern derartiges zutrauten. Allein obschon mir diese Lästerungen nichts anhaben, so richte ich doch um euretwillen an euch die Mahnung: habet Achtung vor der Tugend, glaubet denen, die als bewährte Jünger derselben laut bekennen, es sei etwas Großes und von Tag zu Tag als solches sich in immer größerem Maße Offenbarendes, dem sie nachstrebten. Ehret sie selbst gleich den Göttern und ihre Lehrer gleich den Priestern, und so oft dieser heilige Name erklingt, verfallet in ehrfurchtsvolles Schweigen. Dieser Spruch (favete Linguis) hat nichts zu tun mit »Gunst« (favor), sondern gebietet Schweigen, damit die Opferhandlung dem heiligen Brauche gemäß vollzogen werden könne ohne Unterbrechung durch irgendwelches ungehörige Wort. Und viel mehr noch ist euch das Gebot von nutzen, in voller Sammlung und mit Unterdrückung jedes Lautes zuzuhören, sobald von diesem Orakel der Tugend ein Spruch verkündet wird. Wenn einer, die Klapper schwingend, dem gebieterischen Brauche gemäß Lügen verkündet, wenn irgend einer, der sich auf Tätowieren der Arme versteht, seine Arme und Schultern mit hoch erhobener Hand blutig ritzt, wenn irgend ein altes Weib auf den Knien über den Weg kriechend ein Geheul anschlägt, oder ein Greis, mit Leinwand angetan, ein Lorbeerbüschel und am hellen Tage eine Leuchte vor sich hertragend den Ruf erschallen läßt, irgend ein Gott sei voll Zornes, da lauft ihr zusammen und horchet auf, und einer des anderen Betroffenheit verstärkend versichert ihr, das sei ein Gottbegeisterter.«

27. Horchet auf! Sokrates ist es, der euch von jenem Kerker aus, den er durch seinen Eintritt reinigte und dem er einen Rang verlieh, der den einer jeden Kurie überbietet - er ist es, der euch zuruft: »Was ist das für ein Wahnsinn, was ist das für ein Göttern wie Menschen feindseliges Gebaren, die Tugenden in Verruf zu bringen und das Heilige mit Lästerreden in den Staub zu ziehen? Bringt ihr es über euch, so preiset die Guten; wo nicht, so laßt sie zur Seite! Findet ihr Gefallen daran, eure widerwärtige Frechheit zu üben, so macht euch unter euch einer über den anderen her; denn wenn ihr euren Wahnwitz gegen den Himmel richtet, so begeht ihr zwar keinen Gottesfrevel, aber es ist verlorene Mühe. Ich habe vor Zeiten dem Aristophanes Stoff geboten zu allerlei Witzen; die ganze Schar der Komiker hat ihre giftige Lauge über mich ausgegossen: zu strahlendem Glänze wird meine Tugend gebracht durch eben die Angriffe, die auf ihre Verunglimpfung berechnet waren; denn es ist vorteilhaft für die Tugend, der Welt vorgeführt und geprüft zu werden, und niemand erkennt besser ihren Wert als diejenigen, die durch Angriffe auf sie ihre Kraft zu fühlen bekommen haben: die Härte des Kiesels ist niemandem besser bekannt als denen, die auf ihn schlagen. Ich darf mich vergleichen einem einsamen Fels in seichtem Meeresgrund, den die Wogen, von allen Seiten andringend, unaufhörlich peitschen, ohne ihn doch von der Stelle zu rücken oder durch den im Laufe so vieler Menschenalter oft wiederholten Anprall zum Abbröckeln zu bringen. Springet nur heran, umstürmt mich mit euren Angriffen: meine Beharrungskraft soll Siegerin über euch bleiben. Was fest und unüberwindlich ist, an dem probiert alles, was dagegen anstürmt, seine Kraft nur zum eigenen Unheil: suchet euch also einen weichen und fügsamen Stoff, in dem eure Pfeile haften können. Ihr aber habt Zeit genug, anderer Fehler aufzuspüren und über irgendeinen abzusprechen mit den Worten: »Was fängt dieser Philosoph mit seiner viel zu geräumigen Wohnung an? Warum schwelgt er in viel zu üppigen Mahlzeiten?« Die Hitzbläschen an anderen spürt ihr aus, ihr, die ihr selbst mit Geschwüren geradezu übersät seid. Das ist gerade, als wollte einer, den gräßliche Krätze zum Gerippe macht, sich lustig machen über die kleinen Tüppelchen und Warzen, von denen auch die schönsten Körper nicht frei sind. Werft dem Platon vor, daß er um Geld gebeten, dem Aristoteles, daß er Geld angenommen, dem Demokrit, daß er sich nichts daraus gemacht hat, dem Epikur, daß er es verbrauchte, macht mir selbst den Umgang mit Alcibiades und Phädrus zum Vorwurf, ihr, für die es kein größeres Glück geben könnte, als zunächst einmal unsere Fehler nachzuahmen! Warum achtet ihr nicht lieber auf eure eigenen Fehler, deren Stiche ihr allerseits fühlt als teils mehr äußerlich störend, teils tief in den Eingeweiden brennend? Mag eure Selbsterkenntnis noch so unzureichend sein, es steht mit den menschlichen Dingen doch nicht so, daß euch Muße genug bliebe, um eure Zunge sich in Schmähungen ergehen zu lassen gegen Männer, die euch weit überlegen sind.

28. Das seht ihr nicht ein und nehmt eine Miene an, die wenig zu eurer Lage paßt, ähnlich der jener zahlreichen Zuschauer im Zirkus oder im Theater, in deren Haus sich ein Todesfall ereignet hat, ohne daß sie noch eine Ahnung davon haben. Ich aber, von der Höhe herabschauend, sehe die Stürme, die entweder gegen euch im Anzug sind, um bald genug das Gewölk zu durchbrechen, oder schon unmittelbar über euch stehen, bereit, euch das Eurige zu rauben. Und wie denn? Treibt nicht auch jetzt schon, wenn ihr es auch noch nicht recht spürt, ein Wirbelwind eure Seelen im Kreise herum und reißt sie mit sich, sie, die das Nämliche bald fliehen, bald zu erhaschen suchen, bald himmelhoch gehoben, bald in die unterste Tiefe hinabgestoßen?«


Inhaltsverzeichnis

Von der Gemütsruhe - Von der Seelenruhe
Vom glücklichen Leben
Von der Muße
Von der Kürze des Lebens
Von der göttlichen Vorsehung
Der Tod des Seneca