Der Tod des Seneca

Als es soweit war, brachen Seneca und Paulina von Campanien nach Rom auf und machten - scheinbar zufällig - Station auf dem Latiner Landgut. Die erste Nacht verbrachten sie ruhig, genossen den tiefen, festen Schlaf. Am nächsten Abend luden sie Statius Annaeus und Fabius Rusticus zum Essen ein. Von draußen drang Lärm in das Triclinium. Der Prätorianertribun Gavius Silvanus hatte das Landhaus mit einer Schar Soldaten umstellt, schon stand er in der Tür des Eßzimmers. Seine Brustwehr glänzte matt, sein Helmbusch strahlte in dunklem Purpur. „Lucius Annaeus“ sagte er trocken, „ich mache dir die Befehle des Kaisers bekannt!“ Gavius war verlegen, schwer empfand er die Schande seines Auftrags. „Wir hören!“ sagte Seneca gutgelaunt. „Folgende Worte soll ich dir überbringen, und ich soll mich erkundigen, ob du die Aussagen und Vorwürfe, die ich dir vorlesen werde, als wahr anerkennst. Natalis berichtet nämlich, daß er zu dir geschickt worden sei, um dich zu besuchen; denn du lagst krank im Bett. Er habe sich im Namen Pisos bei dir beschwert: Warum du ihm, Piso, den Zugang verwehrtest? Ob es nicht besser wäre, wenn ihr eure Freundschaft im vertrauten Umgang pflegen würdet? Du habest geantwortet: ‚Ein Austausch im Gespräch und häufige Unterredungen bringen für uns keinen Nutzen; im übrigen stützte sich mein Heil auf Pisos Wohlergehen.’“

„Das ist wahr“, sagte Seneca, „Natalis ist zu mir geschickt worden und hat sich bitter beklagt. Ich bin krank und suche Ruhe. Warum soll ich meine Gesundheit, meine Unversehrtheit für die Pläne eines mir gleichgültigen Privatmannes aufgeben? Einen solchen Grund hatte und habe ich nicht. Was kümmert mich Piso? Zu schmeicheln liegt mir nicht, das weiß keiner besser als der Princeps, der allzu oft meine freie Rede getadelt hat.“

Gavius ließ Senecas Worte durch einen Schreibsklaven protokollieren. Er las sie Seneca vor. Dann verließ er das Landgut, eilte nach Rom und gab dem Kaiser Bericht. Nero erteilte den Todesbefehl, mit dem er Gavius Silvanus zu Seneca zurückschickte. Der Tribun wußte nicht, was er tun sollte. Um Rat zu holen suchte er Faenius Rufus auf, den Prätorianerpräfekten, der ebenfalls an der Verschwörung teilnahm, legte er Neros Befehl vor. „Soll ich gehorchen?“ „Führe aus, was dir befohlen!“ fauchte ihn Faenius an.

Gavius Silvanus, der in Senecas Aussagen keine Zeichen der Angst, keine Traurigkeit in seinen Worten oder in seinem Antlitz erkennen konnte, spürte um so stärker seine eigene feige Unterwürfigkeit. Um sich den Anblick des sterbenden Seneca zu ersparen, schickte er einen seiner Centurionen auf das Landgut, damit dieser das Todesurteil verkünde. In der Zwischenzeit genossen Seneca, Paulina und die beiden Gäste ein einfaches Abendessen. Seneca war bester Laune, er berichtete von seinen Abenteuern, die er auf seiner Indienreise erlebt hatte. [...]

Da tritt der von Gavius Silvanus vorgeschobene Centurio ins Triclinium. Ohne ein Wort zu sagen, überreicht er Seneca Neros Befehl. „Tu endlich, wovon du dein Leben lang gesprochen hast: Stirb!“ Seneca rollt den Papyrusbogen zusammen und verlangt nach Schreibtafeln, um sein Testament zu vollenden. „Laß das!“ verbietet der Centurio brüsk. Ruhig wendet sich Seneca zu Paulina, Rusticus und Statius Annaeus. „Da ich daran gehindert werde, für eure verdienstvolle Freundschaft Dank abzustatten, hinterlasse ich das Einzige, was ich noch besitze: das Bildnis meines Lebens.“

Seneca umarmt Paulina. „Folge mir nicht!“ sagt er mit warmer Stimme. „Ertrage meinen Tod, indem du dich an unsere Liebe erinnerst, trauere nicht, genieße das Vergangene, beschenke mich, indem du lebst.“ „Wer dich mordet, mordet auch mich!“ „Mein Tod wird ohne Ruhm sein, dein Ruhm ohne Tod!“ Paulina drückt Seneca an sich, bestimmt und sicher, ihm zu folgen.

Sie nicken Statius Annaeus zu, halten ihm die Unterseiten ihrer beiden Arme hin. Mit einem scharfen, langen Schnitt öffnet der Arzt die Adern, dunkles Blut tropft überquellend hervor. Seneca läßt sich auch die Venen der Beine und an den Kniekehlen aufschneiden. Tief und süß gehen die Schnitte, der ganze Körper zieht sich schüttelnd zusammen. Fabius Rusticus, der die Schwere der Szene zunächst nicht begreift, bricht plötzlich in heftiges Weinen aus. Auch Statius Annaeus, der als Arzt ruhige Hand bewahrte, läßt das Chirurgenmesser entsetzt fallen, sich seiner Tat bewußt werdend. Seneca legt seine blutende Hand auf seine Schulter, umarmt den schluchzenden Fabius. „Weint nicht! Erinnert euch an unsere Freundschaft, an unser Leben, an unser Bemühen um Tugend. Wir wollen standhaft sein, wahrhaftig. Tragt die Kunde davon in die Welt! Was sind tote Körper, das Bildnis der Erinnerung lebt weiter!“ „Seneca, du könntest fliehen, das Reich ist groß. Irgendwann wird Nero stürzten, du kehrst zurück, lebst lange und gesund.“ „Bringt Binden!“ Befiehlt Rusticus den Sklaven mit sich überschlagender Stimme. „Noch ist es nicht zu spät! Statius, was bist du für ein Arzt! Schließe die Wunden, hilf, beim Jupiter, hilf!“

„Wo sind die Grundsätze der Philosophie?“ fragt Seneca fest. „Wo bleibt deine vernünftige Haltung gegenüber dem Unvermeidlichen? Haben wir nicht jahrelang daran geübt? Ist dir die Grausamkeit Neros unbekannt geblieben? Er hat seine Mutter getötet, seinen Bruder, seine Frau, Burrus, seinen Präfekten. Ich war sein Lehrer: ich bin der nächste, den er tötet.“

Seneca ruft seinen Lieblingsschreibsklaven und beginnt zu diktieren. „Dies ist mein letztes Schreiben. Es geht an die Menschheit. Da ich mein Leben lang wissen wollte, was der Tod sei, wie es ist zu sterben, und da ich glaubte, daß dies viele Menschen, alle Menschen wissen möchten, skizziere ich meine letzten Augenblicke, Schmerzen, Gedanken, beobachte mich selbst, wie ich sterbe. Ich habe mir an beiden Armen und Beinen die Adern aufschneiden lassen. Der Schnitt war scharf, schmerzte aber kaum. Anfangs quoll das Blut leicht und gut, in Eimern wird es aufgefangen. Doch jetzt gerät es ins Stocken. Ich bin zu alt, mein Körper ist zu schwach, um aus eigener Kraft das Blut von sich zu geben. Neben mir auf dem Tisch liegen mein Testament, meine Werke, Platons ‚Phaidon’, ein Schwert, Gift. Meine geliebte Frau Paulina stirbt mit mir. Ich bin ruhig und ohne Furcht. Mein Leben ist voll und reif. Ich gestalte meinen Tod als Kunstwerk. Dies ist nur wenigen vergönnt, ich darf mich glücklich nennen. Ganz nahe bei mir sind mein Freund Lucilius und mein Neffe Marcus Annaeus Lucanus. Ich liebe sie. Ihnen gehe ich voraus. Ich folge meinem stolzen Vater Lucius Annaeus, meiner geliebten Mutter Helvia. Sie blicken mit Nachsicht und Güte auf ihren Sohn. Mich erwarten Lucretia, meine erste Frau, und Marcus, mein einziger Sohn. Sie beide werden Paulina umarmen.“

Seneca verstummt. Für den Augenblick verliert er das Bewußtsein, sinkt ermüdet und kraftlos auf das Sofa zurück. Paulina, die ihn für tot hält, schüttelt heftigster Schmerz und tiefe Trauer. Ihre Muskeln ziehen sich krampfhaft zusammen. Statius Annaeus reißt ihre Toga, ihre Tunica auf, reibt ihren Körper mit kühlenden Essenzen ein. „Aus dunkler Finsternis bin ich wieder erwacht“, redet Seneca plötzlich weiter, dem Sklaven diktierend, „ich habe das Reich des Todes gesehen, es ist groß und friedlich, still und ohne Schmerzen. Es empfängt uns gütig, gütiger als das Leben. In meinem Körper bereitet sich endlos Schwäche aus wie eine Düne in der Wüste. Der Atem geht langsam, die Stimmen höre ich entfernt, die Bilder, die ich sehe, sind nicht wirklich, wirken hohl und leer.“

Blut quillt aus seinem Mund. Es verstopft die Atemwege, Seneca bricht in Husten und Gekeuche aus, spuckt Blut und Eiter. Sklaven fangen es in Schüsseln auf, versuchen, durch Stützen den Husten zu stillen. Statius legt kalte Wickel auf. „Bringt Paulina in ein anderes Zimmer“, befiehlt Seneca. „Ich möchte nicht, daß sie mich leiden sieht. Ich kann sie nicht leiden sehen.“ Paulina ist ohne Sinne, ihr Körper zuckt spastisch vor sich hin. Fabius Rusticus und die Sklaven tragen sie vorsichtig ins Nebenzimmer. Da dringen Soldaten ein, verbinden ihre Arme, stillen das Blut, verbinden die Wunden. Ein Befehl Neros verhindert ihren Tod. Senecas Tod läßt auf sich warten, und um die Qualen zu verkürzen, bittet Seneca um den Giftbecher. Schnell vermischt Statius Annaeus den Schierling mit Honig, damit er die Bitterkeit verliere, und träufelt dem geschwächten Freund das tödliche Gift auf die Lippen. Doch Seneca schluckt es vergebens, sein kraftloser Körper vermag den Wirkstoff nicht mehr aufzunehmen. Die Todesqual zieht sich in die Länge. „Die Schmerzen, die ich jetzt empfinde, sind unerträglich. Das Leben sträubt sich, mich gehen zu lassen. Das ist natürlich, und sich darüber beklagen hieße vergessen, ein Mensch zu sein. Nein, ich bin dankbar dafür. Was sich so verabschiedet, läßt man gerne zurück.“

Tod des Seneca
Tod des Seneca, Manuel Domínguez Sánchez, 1871

Vier Stunden vergehen wie vier Jahre. Seneca, immer wieder in Ohnmacht sinkend, von spottenden Schmerzen zurückgeholt in die wachen Qualen des Lebens, leidet mehrfach den Tod. Statius Annaeus, selbst am Rande des Lebens, entkräftet, machtlos, befiehlt den Sklaven, eine Wanne mit kochendem Wasser herzurichten. Sorgfältig hebt er zusammen mit Senecas Lieblingssklaven den erschlaffenden Körper in das dampfende Becken. Der heiße Dampf weckt Seneca zu neuem Leben. Mit schwacher Hand spritzt er die um ihn stehenden Sklaven an. „Dem Befreier Jupiter!“, flüstert er lächelnd, die strahlenden Gesichter der befreiten Sklaven sehend. „Wir alle sind Sklaven. Mich befreit der Tod.“ Ein heißes, wogendes Rauschen umspült Senecas Inneres, ein warmes Lustgefühl, ein überbordendes Glück beginnt in ihm zu leuchten. „Das ist es“, denkt Seneca bei sich, als alle Kraft hinabströmt durch seine Beine in den Boden, als sein Körper leicht wird und schwebend. Er spürt, wie sein Herz aufhört zu schlagen, und er möchte dies der Nachwelt sagen. Doch die Kraft fehlt, die Stimme ist weg. Das Augenlicht verdunkelt sich, das Gehör verschwindet. Ganz bei sich, abgeschlossen vor der Welt, sieht er mit innerem Auge die unermeßliche Schönheit des nächtlichen Sternenhimmels, die blühende Pracht eines Mohnfeldes, die glänzenden Augen seines geliebten Marcus. Er spürt noch, wie ihn die Seelen der Lucretia, der Helvia, des Vaters, des Großvaters lachend in Empfang nehmen. Da versagt das irdische Denken, er vergißt alle Worte, befreit, um eine neue Sprache zu lernen.


Inhaltsverzeichnis

Von der Gemütsruhe - Von der Seelenruhe
Vom glücklichen Leben
Von der Muße
Von der Kürze des Lebens
Von der göttlichen Vorsehung
Der Tod des Seneca