Lucius Annaeus Seneca

Lucius Annaeus Seneca, genannt Seneca der Jüngere (geboren etwa im Jahre 1, gestorben 65 n. Chr.), war ein römischer Philosoph, Dramatiker, Naturforscher, Politiker und als Stoiker einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit. Er lehrt: Das höchste Gut ist die Harmonie der Seele. Zur Seelenruhe führen kann nur die Vernunft, die ein Teil des göttlichen Geistes ist, der im menschlichen Körper versenkt wurde. So kommt es im Leben darauf an, die Unschuld des Neugeborenen mit den Mitteln der Vernunft und Einsicht zurückzugewinnen.

Seneca war ein treuer Berater von Kaiser Nero, doch er wurde immer weniger erhört und schließlich sogar zum Verräter denunziert. Auf Befehl von Nero mußte er Selbstmord begehen und ertrug den Tod, der sich lange hinzog, mit stoischer Gelassenheit. Was für eine traurige Symbolik! Seneca hatte sein ganzes Leben und philosophisches Wirken der höheren Vernunft gewidmet, und wie er sterben mußte, so mußte auch sie im Laufe der Geschichte sterben. Denn immer weniger Herrscher hörten auf die Stimme der Vernunft, und schließlich wurde dieses höchste Gut im Menschen verurteilt, sich selbst zu töten und ertrug einen langsamen Tod über viele Jahrhunderte, ausgeblutet und vergiftet durch das, worauf wir heute so stolz sind, eine materialistische Gesellschaft der Superegos, die mit ihrer Umwelt und sich selbst nicht mehr klarkommt. Ob die Vernunft je wieder erwacht und lebendig wird?

Wie führe ich ein Leben im Einklang mit allen anderen Wesen und der Natur? Wie gelange ich zu innerer Ruhe und Zufriedenheit? Dazu möchten wir hier einige Briefe von Seneca zum Thema Tugend, Mäßigung und Vernunft vorstellen, die auch nach 2000 Jahren an ihrer Bedeutung nichts verloren haben und uns auch heute noch eine große Hilfe im Leben sein können.

Inhaltsverzeichnis

Von der Gemütsruhe - Von der Seelenruhe
Vom glücklichen Leben
Von der Muße
Von der Kürze des Lebens
Von der göttlichen Vorsehung
Der Tod des Seneca

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Verwendete Quellen / Literaturverzeichnis

✍ Übersetzung aus dem Latein von Otto Apelt (1845-1932) aus den philosophischen Schriften des Seneca (vier Bände, Leipzig 1923–1924)

✍ Der Tod des Seneca, Beat Schönegg, Reclam Ditzingen 2001


Zur Info: Über das Weltbild der Stoa

Die Weltbetrachtung der Stoiker ist eine durch und durch organische. Die stoische Physik geht von der Vorstellung eines materiellen Kontinuums als Kosmos aus, der wie eine Insel in eine unendliche Leere gebettet ist. Die Gesamtheit der Dinge leiten sie von einer lebenden und beseelten Ursubstanz ab.

„Die Stoiker leiteten alles Geschehen aus der Gottheit her, deren allbelebende Urkraft sich auch der Materie bemächtigt hat und deren Weltgeist (Logos = Urfeuer, göttliches Wort bzw. Vernunft) gemeinsam mit der Weltseele (Pneuma = Lebenshauch) eine unerbittlich vorausbestimmte (determinierte) Weltordnung bedingt.“

„Die Stoiker erklärten Gott für ein vernünftiges Wesen, für ein künstlerisches Feuer, welches planvoll bei der Weltbildung verfährt und die Gesamtheit der samenhaften Keimkräfte in sich birgt, denen gemäß alles mit Notwendigkeit vor sich geht.“

Gott ist das tätige Prinzip, die Materie das leidende. Der Urstoff wird durchströmt von der Gottheit, der göttlichen Urkraft. Die Gottheit ist zugleich Schöpferkraft, Lebensprinzip, Formtrieb, Gestaltungswille, schaffende und leitende Weltvernunft, Allseele, Vorsehung, höchste Norm, Naturnotwendigkeit = Logos. Dieser Logos wird mit Gott identifiziert. Als Pneuma, als vernünftige, feurige Urkraft durchdringt Gott alle Dinge bzw. den toten und eigenschaftslosen Weltstoff mit Leben und verleiht den realen Gegenständen ihren speziellen und individuellen Charakter, indem die feuerfunkenartigen  logoi spermatikoi (Samenkörner des Logos) alles erfüllen. Jeder einzelne dieser logoi ist Träger einer eigenen Idee. Die stoischen logoi spermatikoi (lat.: rationes seminales) bilden kein ideelles Telos (Ziel), sondern sind physische Ursachen materieller Art innerhalb der allgemeinen Ursachenreihe. Sie sind die Keimkräfte, in denen sich das Schöpfertum der Weltvernunft äußert. Die Weltvernunft und Vorsehung, die überall wirken, sind aber nicht die Gedanken und das Wollen eines freien, persönlichen Geistes, sondern nur die Gestaltungs- und Bewegungsordnung des Stoffes selbst, die unendliche Ursachenreihe. Die irdischen Dinge danken ihr individuelles Sein dem Pneuma (Lebenshauch), das ihre qualitative Eigenart bestimmt. Dieses Pneuma durchzieht die ganze Welt, aber in sehr verschiedener Reinheit und Stärke. Je mehr Pneuma vorhanden ist, desto höher ist die Daseinsform. Als Teil des Ganzen ist alles aus dem spermatischen Logos hervorgegangen, und nach dem Gesetz der Umwandlung muß alles in diesen Logos wieder aufgelöst werden. Deshalb sind auch alle Menschen gleich - sie kommen aus dem Gleichen, sie gehen in das Gleiche!

Daher kennt die Physik der Stoa im Gegensatz zu Aristoteles auch keinen Dualismus. Die Welt wird nicht von einem Gott beherrscht, sie ist Gott. Ebenso wird die platonische Trennung von phänomenaler und noumenaler (bzw. objektiver und subjektiver) Welt zugunsten eines Pantheismus  (d.h. Gott und Welt sind eins) zurückgenommen. Die Stoiker sind keine Theisten, sondern Panpsychisten (alles ist Geist bzw. Seele). Die stoische Physik kulminiert in einer Theologie des kosmischen Gottes. Aber wenn die Welt sich selbst begründet, wenn sie autark ist, dann füllt sie selbst den Platz Gottes aus und ist selbst Gott! Damit hat die Stoa als erste (???) den Gedanken einer teleologisch vollkommen durchstrukturierten Welt entwickelt.

Nach bestimmter Zeit, nach einer Weltperiode, löst sich die Welt im Weltbrand (ekpyrosis) in das Urfeuer wieder auf und alles beginnt - in identischer Abfolge - von vorn. Die Stoa lehrt ein sich ewig wiederholendes, periodisches Weltenentstehen und -vergehen. Das Urfeuer bringt die Welt hervor und vernichtet sie wieder. Jede neu entstehende Welt gleicht in allen Details den vorherigen Welten!

(Quelle: Die Seelenlehre der Stoa unter besonderer Berücksichtigung der stoischen Lehre von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele, Roger Künkel, 2014 - Die Kommentare in Kursiv wurden von uns hinzugefügt.)

Auf den ersten Blick könnte man meinen, es gebe keinen konsequenteren Materialismus als den der Stoiker, da sie alles Wirkliche für Körper erklären. Gott und die menschliche Seele, Tugenden und Affekte sind Körper. Es kann keinen schrofferen Gegensatz geben als zwischen Plato und den Stoikern. Jener lehrte, daß der Mensch gerecht ist, wenn er an der Idee der Gerechtigkeit teil hat: nach den Stoikern muß er den Gerechtigkeitsstoff im Leibe haben. Das klingt materialistisch genug, allein gleichwohl fehlt diesem Materialismus der entscheidende Zug: die rein materielle Natur der Materie; das Zustandekommen aller Erscheinungen, einschließlich des Zweckmäßigen und des Geistigen, durch Bewegung des Stoffes nach allgemeinen Bewegungsgesetzen.

Der Stoff der Stoiker hat die mannigfachsten Kräfte und er wird im Grunde zu dem, was er in jedem Falle ist, erst durch die Kraft. Die Kraft aller Kräfte aber ist die Gottheit, welche die ganze Welt mit ihrer Wirkung durchstrahlt und bewegt. So stehen sich die Gottheit und der bestimmungslose Stoff fast gegenüber, wie im aristotelischen System die höchste Form, die höchste Energie und die bloße Möglichkeit alles zu werden, was die Form in ihr wirkt: eben Gott und die Materie. Allerdings haben die Stoiker keinen transzendenten Gott und keine vom Körper absolut unterschiedene Seele, allein ihre Materie ist durch und durch beseelt, nicht bloß bewegt, ihr Gott ist mit der Welt identisch, aber er ist eben doch mehr als die sich bewegende Materie; er ist »die feurige Vernunft der Welt«, und diese Vernunft wirkt das Vernünftige, das Zweckmäßige, wie der Vernunftstoff des Diogenes von Apollonia, nach Gesetzen, welche der Mensch seinem Bewußtsein, nicht seiner Anschauung sinnlicher Objekte entnimmt. Anthropomorphismus (Übertragung menschlicher Eigenschaften auf Nichtmenschliches, besonders in der Vorstellung, die man sich von Gott macht), Teleologie (alle Entwicklungsprozesse sind zielorientiert) und Optimismus (eine Lebensauffassung, die alles von der besten Seite betrachtet; heitere, zuversichtliche, lebensbejahende Grundhaltung) beherrschen daher das stoische System durch und durch, und der wahre Grundcharakter desselben muß als ein pantheistischer (von „Gott getragener“) bezeichnet werden.

Eine auffallend reine und korrekte Lehre hatten die Stoiker von der Willensfreiheit. Die sittliche Zurechnung knüpft sich an die Tatsache, daß die Handlung aus dem Willen und damit aus dem innersten und eigensten Wesen des Menschen fließt; die Art aber, wie der Wille eines jeden Menschen sich gestaltet, ist nur ein Ausfluß der großen Notwendigkeit und göttlichen Vorherbestimmung, welche das ganze Getriebe des Weltsystems bis ins kleinste beherrscht.

Auch für sein Denken ist der Mensch verantwortlich, weil auch unsre Urteile nicht ohne den Einfluß unsres sittlichen Charakters zustande kommen.

Die Seele, welche körperlicher Natur ist, erhält sich eine Zeitlang nach dem Tode; schlechte und unweise Seelen, deren Stoff weniger rein und dauerhaft ist, gehen schneller unter; die guten steigen zu einem Ort der Seligen empor, wo sie verharren, bis sie im großen Weltenbrand mit allem, was ist, wieder in die Einheit des göttlichen Wesens zurückfließen.

(Quelle: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Friedrich Albert Lange, 1873 - Die Kommentare in Kursiv wurden von uns hinzugefügt.)